EL AUTOR Y SUS CRÍTICOS

Kants Weltbürgerrecht Revisited Eine Replik

Karoline Reinhardt
Universität Passau, Alemania

Revista de Estudios Kantianos. Publicación internacional de la SEKLE

Universitat de València, España

ISSN-e: 2445-0669

Periodizität: Semestral

vol. 8, num. 2, 2024

p.ordenes.azua@gmail.com

Empfangen: 22 November 2023

Akzeptiert: 27 November 2023



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Resümee: Der Beitrag antwortet auf die Kommentare zu Migration und Weltbürgerrecht von Gustavo Leyva, Daniel Loewe und Roberta Picardi. Nach einer kurzen Einführung stelle ich enige zentralen Fragen der Kommentare heraus und formuliere Antworten auf die vorgebrachten Einwände. Die drei Kommentare beschäftigen sich dabei mit vier größeren Themenkomplexen: die Rekonstruktion der Begründungsgrundlage des Weltbürgerrechts bei Kant, dessen Reichweite unter besonderer Berücksichtigung des Verbots auf Nichtabweisung, die Bedeutung des öffentlichen Raums in der Argumentation Kants in der Rechtslehre und den argumentativen Status des provisorischen Besitzes in Kants Rechtsphilosophie.

Schlüsselwörter: Immanuel Kant, Kolonialismus, Migration, Rechtsbegriff, Untergang, Vertragstheorie, Weltbürgerrecht.

Abstract: The article is a response to the commentaries on Migration und Weltbürgerrecht (2019) by Gustavo Leyva, Daniel Loewe and Roberta Picardi. After a brief introduction, I highlight some central questions of the commentaries and formulate answers to the objections raised. The three commentaries deal with four major topics: the reconstruction of the basis of Kant’s justification of Cosmopolitan Right, its scope with special reference to the prohibition of non-refoulement, the significance of public space in Kant’s argumentation in the Doctrine of Right, and the argumentative status of provisional possession in Kant's political philosophy.

Keywords: Colonialism, Concept of law, Contract theory, Cosmopolitan Right, Migration, Ruin.

Die Arbeit an Migration und Weltbürgerrecht begann ich im Sommer 2013, vor also etwa zehn Jahren. Die Welt war damals, wie es so schön heißt, noch eine andere. Europa hatte noch nicht den flächendeckenden Aufstieg rechtspopulistischer Parteien erlebt, welcher die politischen Diskussionen insbesondere mit Blick auf Migrationsthemen heute in fast ganz Europa prägt. Es war die Zeit vor der so genannten Flüchtlingskrise. Es war vor den Märschen tausender Menschen aus Mittelamerika gen Norden. Es war vor Trumps Trennung mexikanischer Familien an der Grenze zu den USA.

Das Promotionsvorhaben, aus dem später Migration und Weltbürgerrecht werden sollte, war nicht durch die Tagesaktualität migrationspolitischer Entscheidungen geprägt, die heute unseren Blick auf grenzüberschreitende Wanderungsbewegungen bestimmen. Mein ursprüngliches Interesse an Ein- und Auswanderung, an Zugehörigkeit und Fremdheit, rührte zunächst aus einem gewissermaßen innertheoretischen Problem: In meinem Studium in Tübingen und New York hatte ich mich immer wieder mit vertragstheoretischen Ansätzen in der politischen Philosophie beschäftigt. Bald wurde es für mich zum Thema, dass diese paradigmatischen Modelle der Rechtfertigung politischer Herrschaftsausübung nichts zur Frage beizutragen hatten, wer Teil des Vertragsschlusses ist und wer nicht (vgl. u.a. Benhabib, 2004; Kersting, 1994). Wer dazugehört und wer nicht, kann selbst nicht durch den Vertrag gerechtfertigt werden – und ich fragte mich, was das mit Hinblick auf Migration und Staatenlosigkeit bedeutet. Denn die Entscheidung über die Mitgliedschaft mit all ihren Auswirkungen auf unsere Möglichkeiten, unser Leben zu gestalten (vgl. u.a. Shachar, 2009), stellt fraglos eine existentiell äußerst relevante Form der Herrschaftsausübung dar.

Unter dem Titel „Migration als Herausforderung politischer Philosophie“ schrieb ich eine Abschlussarbeit zu John Rawls’ The law of peoples (1999) und versuchte dort zum ersten Mal, diese Fragen für mich auf den Punkt zu bringen. Ursprünglich hatte ich geplant, dieser Untersuchung von Rawls’ völkerrechtlicher Theorie einen anderen Text, nämlich Kants Zum ewigen Frieden entgegen zu stellen, und beide Schriften in den Dialog zu bringen. Knapp 300 Seiten später wurde daraus Migration und Weltbürgerrecht.

Die Lektüre der äußerst präzisen Kommentare von Gustavo Leyva, Daniel Loewe und Roberta Picardi, die nicht nur eine Auseinandersetzung mit Migration und Weltbürgerrecht darstellen, sondern zugleich systematische Weiterentwicklungen skizzieren, war für mich überaus bereichernd. Ich habe dabei viel gelernt. Auf einige ausgewählte Punkte möchte ich nun im Rahmen dieser Replik eingehen: Gustavo Leyva wirft in seinem Kommentar „Kant y el Cosmopolitismo en el debate contemporáneo“ zwei zentrale Fragen auf. Die erste betrifft meine Rekonstruktion der Begründung des Weltbürgerrechts bei Kant, die zweite weist über die Kant-Interpretation hinaus: Leyva fragt in seinem sehr klaren und zugleich sprachgewandten Kommentar, ob Kants Weltbürgerrecht weit genug geht angesichts der Größenordnungen der Ungleichheit und Ungerechtigkeit in der Welt. Lassen Sie mich zu beiden Punkten etwas sagen. Die Begründung des Weltbürgerrechts stellte für die Kantforschung immer wieder eine gewisse Herausforderung dar, da Kant in Zum ewigen Frieden wie auch der Rechtslehre zwar auf ähnliche Konzepte zurückgreift, diese aber unterschiedlich nuanciert, sie weiterhin hinsichtlich ihres Bedeutungsgehalt mehrere Interpretationen zulassen, schließlich die Bestimmung ihrer argumentativen Funktion Fragen aufwirft. Ich habe vorgeschlagen, fünf Lesarten zur Rechtfertigungsgrundlage des Weltbürgerrechts zu unterscheiden: Lesarten, die a) das Weltbürgerrecht als ein Recht auf Mitgliedschaft in einer kosmopolitischen Gemeinschaft bzw. einem kosmopolitischen Gemeinwesen verstehen, b) das Weltbürgerrecht als eine notwendige Bedingung für Weltöffentlichkeit und Aufklärung sehen und hierüber die Rechtfertigung rekonstruieren, c) das Weltbürgerrecht über seine Friedensfunktionalität gerechtfertigt sehen, d) es als bereits im einen angeborenen Recht auf Freiheit angelegt begreifen und schließlich Interpretationen, die e) betonen, dass sich das Weltbürgerrecht in der von Kant formulierten Form aus dem Rechtsbegriff unter den Anwendungsbedingungen menschlicher Existenz ergibt. Auch wenn sich für alle Lesarten Belege anführen lassen und ich durchaus nicht der Ansicht bin, dass dies der einzig mögliche Weg sei, habe ich in Migration und Weltbürgerrecht für die fünfte Lesart plädiert.

Leyva formuliert in seinem Kommentar eine negative Kritik wie auch einen positiven Gegenentwurf: Nach seiner Ansicht steht die fünfte Lesart vor dem Problem, dass sich diese Begründungsstrategie letztlich auf empirische Beobachtungen – die Kugelgestalt der Erde und die räumliche Ausgedehntheit der Menschen – beziehen würde, aus denen aber keine Rechtspflichten abgeleitet werden könnten. Hier weist Leyva auf einen wichtigen möglichen Einwand gegen diese Interpretation hin: Empirische Beobachtungen können keine Rechtfertigung für Rechte begründen, da dies bedeuten würde, dass man aus dem Sein ein Sollen ableitet (vgl. zu dieser Frage Benhabib, 2004, S. 33; Reinhardt, 2019, S. 191f.). Dies ist aber nicht die Strategie, die diese Lesart verfolgt: Nicht die empirischen Bedingungen menschlicher Existenz sind rechtfertigungsstiftend, sondern sie sind lediglich die Anwendungsbedingungen, unter denen auf der Grundlage des Rechtsbegriffs die Rechtfertigung des Weltbürgerrechts artikuliert wird. Wären die Bedingungen menschlicher Existenz andere, wären wir zum Beispiel körperlose rein geistige Entitäten oder könnten uns ins Unendliche zerstreuen, würde das Weltbürgerrecht eine andere Form annehmen (vgl. Loewe in diesem Heft). Aber unter den gegebenen Anwendungsbedingungen stellt sich die Rechtsaufgabe eben in der von Kant dargelegten Form: Wir müssen irgendwo sein und die Fläche, auf der wir sein können ist durch die Kugelgestalt der Erde begrenzt und in sich geschlossen, was bedeutet, dass wir uns immer in einem Verhältnis des möglichen Kontakts befinden. Für diese Möglichkeit muss eine rechtsförmige Form gefunden werden, das Weltbürgerrecht, und es besagt unter anderem, dass unser Irgendwo-Sein allein keine Rechtsverletzung darstellt.

Positiv stellt Leyva dieser möglichen Lesart zur Begründungsgrundlage einen alternativen Entwurf entgegen, den er für vielversprechender hält, nämlich eine Rechtfertigung des Weltbürgerrechts, welche den Begriff der Würde in den Mittelpunkt stellt. Ausgehend von Kants Überlegungen zur Würde in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten skizziert er den Würdebegriff, welcher auf der Fähigkeit des Menschen zur Autonomie, verstanden als moralischer Selbstgesetzgebung beruht und als Paradigma aller Formen und Arten von Recht verstanden werden könne. Hieraus ließe sich, so Leyva, letztlich auch das Weltbürgerrecht ableiten, da die Würde des Menschen die Grundlage aller Leitprinzipien des menschlichen Handelns und damit der Legitimität institutioneller Rahmenordnungen darstellen würde.

Ich möchte hier nicht zur Frage nach der argumentativen Bedeutung des Menschenwürdebegriffs in der Kantischen Moralphilosophie Stellung beziehen, die anderswo ausführlich diskutiert wird (vgl. Klemme, 2015; Sensen, 2011), sondern mich lediglich auf einige Bemerkungen zum Verhältnis von Menschenwürde und Weltbürgerrecht beschränken. Zunächst ist auffällig, dass Kant in den Passagen zum Weltbürgerrecht nicht auf den Begriff der Würde rekurriert, wohl aber auf jenen des Rechts und auf die Kugelgestalt der Erde. Abgesehen von diesen textlichen Hinweisen scheinen sich auch systematisch bei dieser Engführung von Würdebegriff und Weltbürgerrecht einige Fragen aufzutun: Die Würde des Menschen steht in einem engen Zusammenhang mit der moralischen Selbstgesetzgebung. Warum aus dem Akt der moralischen Selbstgesetzgebung Verpflichtungen für andere resultieren, unsere Fähigkeit zur moralischen Selbstgesetzgebung also nicht nur uns selbst, sondern zugleich andere verbindet, bedarf eines weiteren Arguments. Ich würde daher bezweifeln, dass wir ohne die Anwendungsbedingungen menschlicher Existenz zur Formulierung des Weltbürgerrechts gelangen können, die Kant uns in Zum ewigen Frieden und der Rechtslehre vorschlägt. Würde besitzen wir nach Kant auch, wenn uns niemand zu irgendetwas verbunden ist; Recht aber ist bei Kant relational und ist immer auf andere bezogen. Würde hätten wir auch als körperlose Entitäten im Äther, solange wir zur moralischen Gesetzgebung fähig wären; der Rechtsbegriff jedoch greift unter Bedingungen der möglichen wechselseitigen Einflussnahme bezogen auf äußere Handlungen. Eventuell ließe sich eine Seite des Weltbürgerrechts, nämlich die Verpflichtung zur Nichtabweisung im Falle des möglichen „Untergangs“ einer Person, auch unter Rekurs auf Kants Begriff der Menschenwürde begründen. Die Rechte aber von Gruppen und Staaten, andere abzuweisen, sollten sich diese feindlich verhalten, wie im Fall des Gebahrens der Kolonialmächte, welches Kant im dritten Definitivartikel der Friedensschrift und später auch in der Rechtslehre diskutiert, lässt sich wohl nicht allein über die Menschenwürde rechtfertigen, wenn man meiner Interpretation der Kolonialismuskritik Kants zustimmt: Für Kant ist koloniale Herrschaft nicht erst falsch, wenn sie die Autonomie, verstanden als moralische Selbstgesetzgebung, von Menschen einschränkt. Es kann sogar sein, dass sie diese überhaupt nicht berührt – vielleicht sogar im Einzelfall befördert – und trotzdem wäre nach Kant Kolonialherrschaft falsch, weil sie gegen Rechtsgrundsätze verstößt. Dessen ungeachtet stimme ich Gustavo Leyva emphatisch zu, dass es eine offene Frage ist, inwiefern das Weltbürgerrecht und die mit ihm verbundenen Pflichten angesichts der strukturellen Asymmetrien im politischen wie wirtschaftlichen Bereich in den internationalen Beziehungen als ausreichend zu verstehen sind. Gleichwohl möchte ich davor warnen, die von Leyva eindrücklich beschriebenen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten über ein ausgedehnteres Weltbürgerrecht, etwa umfassende Migrationsfreiheit, lösen zu wollen. Mit Eva von Redecker gesprochen, dürfen wir auch die Bleibefreiheit (2023) nicht aus den Augen verlieren; die Freiheit an einem Ort zu leben, an dem wir bleiben können. Gustavo Leyvas Überlegungen scheinen mir eher in diese Richtung zu weisen – und vielleicht liegt hierin in der Tat eine interessante Ergänzung des Kantischen Weltbürgerrechts.

Daniel Loewe betont in seinem Kommentar „La ‘ruina’ kantiana: el Derecho cosmopolita kantiano y los refugiados“ die Unterschiede zwischen der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Weltbürgerrecht. Auf eindrucksvolle Weise arbeitet er im Verlauf seines Textes die Aktualität des Weltbürgerrechts heraus und setzt diese gegen jüngere Beiträge in drei Hinsichten ab: Das Weltbürgerrecht behandelt eine Rechtspflicht und unterscheidet sich daher von Beiträgen, die das Mitgefühl in den Mittelpunkt stellen. Es handelt sich weiterhin um eine negative Pflicht und ist damit in einer bestimmten Hinsicht weniger anspruchsvoll als jene Ansätze, die auch für positive Leistungspflichten plädieren, jedoch zum Preis eines robusten Rechts auf Zuflucht. Schließlich hebt Loewe hervor, dass es sich um eine vollkommene Pflicht handelt, die keine Ausnahmen erlaubt. Besonders wertvoll finde ich seine Überlegungen zur Deterritorialisierung der Grenze durch aktuelle rechtliche wie sicherheitspolitische Praktiken, die Menschen daran hindern, überhaupt jemals das Territorium eines Staates zu erreichen, der ihnen Schutz bieten könnte. Ich habe diese Praktiken bislang als Verletzungen des von Kant ebenfalls formulierten Rechts der Auswanderung diskutiert (Reinhardt, 2021). Loewes Hinweis, dass die Verhinderung der Ankunft und damit der Möglichkeit, überhaupt in Kontakt zu treten, ebenfalls eine Verletzung des Weltbürgerrechts darstellt, ist äußerst wichtig. Zugleich verweist uns dies auf eine der zentralen Limitationen des Kantischen Weltbürgerrechts: Die Verpflichtung zur Nichtabweisung gilt nur für jene, die das Territorium eines Staates erreicht haben.

Loewes Einwände betreffen zwei Themenkomplexe. Zum einen bezieht sich Loewes Kritik auf die Begründung der Rechtfertigungsgrundlage des Weltbürgerrechts. Zum anderen geht es auch bei Loewe erneut, wenn auch mit deutlich anderer Nuancierung um die Reichweite des Weltbürgerrechts – bei ihm allerdings insbesondere mit Hinblick auf die Verpflichtung zur Nichtabweisung, sollte der „Untergang“ drohen. Anders als Leyva überzeugt Loewe der Rekurs auf den Rechtsbegriff. Allerdings ist er der Ansicht, dass das so begründete Argument für das Weltbürgerrecht der Ergänzung um den Hinweis auf die Unvermeidbarkeit des Kontakts bedarf. Erst unter dieser Annahme könne der Kontakt, der eine unvermeidliche Folge des Daseins der Menschen auf der Erde ist, nicht als Rechtsverletzung angesehen werden. Hierin stimme ich grundsätzlich mit Loewe überein. Allein ist für mich diese Unvermeidlichkeit bereits in der Kugelgestalt der Erde, die nicht nur eine begrenzte, sondern eine geschlossene Fläche darstellt, impliziert: Da die Erdoberfläche nicht nur begrenzt, sondern als Sphäre in sich geschlossen ist, können wir uns nicht nur nicht „ins Unendliche zerstreuen“ (AA, 8:358), sondern wir würden uns beim Versuch, auseinanderzugehen, irgendwann trotzdem wiederbegegnen. Außerdem ist Loewe der Ansicht, man könne das Weltbürgerrecht auch unter Rückgriff auf das Theoriestück des einen angeborenen Rechts auf Freiheit rechtfertigen. Eine solche Rechtfertigungsstrategie schließe ich in der Tat in Migration und Weltbürgerrecht nicht aus, worauf auch Loewe hinweist. Gegen diese Lesart führe ich gleichwohl mehrere mögliche Einwände an, von denen insbesondere die Frage, wie sich das Recht von Gruppen und Staaten, Ankommende abzuweisen ohne weiteres Argument aus dem Individualrecht auf Freiheit herleiten lässt, beantwortet werden müsste, wenn man diese Lesart weiterverfolgen möchte. Außerdem muss man interpretativ damit umgehen, dass auch das eine angeborene Recht auf Freiheit bei Kant den Rechtsbegriff und das allgemeine Prinzip des Rechts bereits voraussetzt. Kant bestimmt jenes nämlich durch den Zusatz „sofern sie [die Freiheit] mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann“ (AA 6:237) näher. Er bindet hier also das eine angeborene Recht an das allgemeine Prinzip des Rechts zurück, welches er zuvor bereits eingeführt und erläutert hat.

Loewe beginnt seinen Kommentar mit einem scharfsinnigen Vergleich von Genfer Flüchtlingskonvention und Kants Weltbürgerrecht. Hier ist sein zweiter zentraler Einwand angelegt. Er argumentiert, dass auch wenn meine Interpretation des Untergangsbegriffs im Weltbürgerrecht einleuchtet, letztlich auch dieses über die Genfer Flüchtlingskonvention hinausgehende Verständnis nicht so viele Fälle erfassen würde, wie ich in Migration und Weltbürgerrecht nahelegen würde. Hierzu möchte ich zwei Punkte hervorheben: Zum einen möchte ich betonen, dass die Anzahl der Fälle von den Gegebenheiten in der Welt abhängt. In der besten aller möglichen Welten würde jene Seite des Weltbürgerrechts, die zur Nichtabweisung im Falle des möglichen Untergangs einer Person verpflichtet, vermutlich keinerlei Anwendungsfälle finden, weil es keinen Hunger, keine Epidemien, keine Klimakatastrophen, keinen Krieg und keine Verfolgung geben würde, die für Menschen eine derartige Bedrohung ihres Leibes, Lebens und ihrer moralischen wie psychologischen Persönlichkeit darstellen würde, dass sie ihrem Untergang gleichkämen. Da Kants Untergang auch den physischen Tod einer Person als Vernichtung der Bedingung der Möglichkeit von moralischer und psychologischer Persönlichkeit umfasst, geht das Weltbürgerrecht in der vorgelegten Interpretation in jedem Fall bereits über die Genfer Flüchtlingskonvention hinaus, die beispielsweise keinen Schutz für Personen bietet, die vor Krieg und Bürgerkrieg fliehen, sondern den Begriff der Verfolgung in den Mittelpunkt stellt, wie Loewe herausarbeitet. Die für die Kant-Forschung interessantere Frage ist daher, ob der Begriff Untergang sich auch auf andere Bedrohungen beziehen kann, die nicht notwendigerweise tödlich sind. Dies habe ich in Migration und Weltbürgerrecht versucht herauszuarbeiten. Was mir hier jenseits von physischer Folter vor Augen stand, waren beispielsweise die „Zersetzungsmaßnahmen“ der Staatssicherheit der DDR, die gegen oppositionelle Gruppen und Einzelpersonen angewendet wurden. Diese „Maßnahmen“ bestanden aus oft aufwendigen Manipulations- und Gaslighting-Szenarien, mit dem Ziel der psychischen Beeinträchtigung und Schädigung. Die verschiedenen Aktivitäten waren darauf ausgelegt, etwa das Selbstvertrauen und das Selbstwertgefühl der Opfer zu untergraben sowie Zweifel an der eigenen Perspektive auf die Welt zu erzeugen. Die Opfer wurden etwa immer neuen beruflichen wie privaten Enttäuschungen ausgesetzt oder durch Störungen der Beziehungen zu anderen Menschen sozial vereinsamt. Dies erfolgte über die gezielte Streuung von Falsch- oder sich widersprechenden Informationen und Gerüchten im sozialen Nahbereich der Person, gezielte Interventionen im Ausbildungs- und Berufsumfeld, Manipulationen im Wohnumfeld der Opfer oder an deren Fahrzeugen, offene, verdeckte oder auch vorgetäuschte Bespitzelung. Diese Maßnahmen richteten sich letztlich auf das Selbst der Opfer. Durch sie sollten persönliche Krisen erzeugt warden und die Persönlichkeit der Opfer letztlich beschädigt oder sogar zerstört werden – ohne notwendigerweise mit irgendwelchen Angriffen auf Leib und Leben verbunden zu sein.[2]

Roberta Picardi weist in ihrem Kommentar „Proprietà privata, sovranità e diritto di escludere: la ‘disarmonia produttiva’ di Kant“ zurecht auf zwei Fehlstellen in Migration und Weltbürgerrecht hin: die Herausarbeitung der Begründung der Bedeutung des öffentlichen Raums bei Kant und den argumentativen Status des provisorischen Besitzes. In Migration und Weltbürgerrecht hatte ich mit Verweis auf Kants Überlegungen zum Recht zur Staatswirtschaft daran erinnert, dass sich die Territorien von Staaten nicht allein aus Privatbesitz zusammensetzen, und daran, dass die Kantische Rechtsphilosophie dies durchaus in den Blick nimmt (Reinhardt, 2019, S. 133). In Kants Staatsrecht wird explizit auf Land in öffentlicher Hand verwiesen, was nahelegt, dass eben nicht jeder Aufenthalt auf dem Territorium eines Staates gleichbedeutend mit der Verletzung von Privateigentum sein muss; ein Einwand, der gelegentlich gegen Kants Weltbürgerrechtskonzeption vorgebracht und ausführlicher von Pauline Kleingeld in ihrem Aufsatz „Kant’s Cosmopolitan Law“ diskutiert wurde (1998). Picardi bemerkt zurecht, dass ich die Bedeutung des öffentlichen Raums für Kants Argumentation in der Rechtslehre nicht eigens untersuche. Für mein Argument war es ausreichend, dass diese Möglichkeit, der Aufenthalt auf Land in öffentlicher Hand besteht und mit der Kantischen Rechtsphilosophie vereinbar ist, weil dies eine mögliche Strategie zur Auflösung der vermeintlichen Spannung zwischen Weltbürgerrecht und Privateigentum darstellt. Freilich ist die Bedeutung und Begründung des öffentlichen Raums in Kants Rechtslehre auch darüber hinaus für die Kantforschung von Interesse und eine weitergehende Untersuchung – möglicherweise im Ausgang von Ripsteins Überlegungen in Force and freedom (2009, S. 232-266; vgl. Reinhardt, 2019, S. 133) – sicherlich lohnenswert.

Auch für Picardis Hinweise zur provisorischen Erwerbung bin ich dankbar. Ich habe jene vorrangig mit Hinblick auf Kants Kolonialismus diskutiert. Im Mittelpunkt meiner Untersuchung stand die Frage des vermeintlichen Widerspruchs zwischen Kants Postulat des öffentlichen Rechts auf der einen Seite, welches fordert, „im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins, mit allen anderen, aus jedem [dem Naturzustand] heraus, in einen rechtlichen Zustand“ (AA 6:307) überzugehen, und Kants Kolonialismuskritik auf der anderen Seite, insbesondere Kants Überlegungen im § 15 der Rechtslehre. Hier wirft er die Frage auf, ob koloniale Herrschaft zur Herstellung des Rechtszustandes gerechtfertigt sein könne. Bekannterweise lehnt Kant diese Position ab und hält diese Art der Erwerbung des Boden für „verwerflich“ (AA 6:266). In Migration und Weltbürgerrecht habe ich versucht zu rekonstruieren, warum für Kant unilateraler Zwang zur Herstellung des Rechtszustandes im einen Fall legitim ist, im anderen aber (zurecht) nicht. Mir scheinen hier zwei Aspekte von Bedeutung zu sein, die ich nebeneinander gestellt habe: Zum einen scheint Kant das (vorgebliche) Ansinnen, man wolle mit der Einrichtung kolonialer Herrschaft nur die Errichtung des Rechtszustandes befördern, als ein solches zu entlarven, zum anderen befinden sich in der Situation der Etablierung von Kolonialbeziehungen die beiden Parteien nicht im Naturzustand – und allein in jenem greift das Postulat das öffentlichen Rechts (Reinhardt, 2019, S. 150). Gleichwohl handelt es sich, wie Picardi zurecht herausarbeitet, beim provisorischen Besitz insbesondere auch in seiner Beziehung zum ursprünglichen Gemeinbesitz an der Erde, auf welchen Kant in seiner Diskussion des Weltbürgerrechts in Zum ewigen Frieden verweist, um ein diffiziles Theoriestück der Kantischen Rechtslehre. Picardis Ausführungen zeigen eindrücklich, dass hier interpretativ wie auch systematisch noch einige Arbeit für die Kantforschung zu leisten ist. Ich würde aber behaupten wollen, dass wir uns in der Grundausrichtung der Argumentation vielleicht näher stehen als es in Picardis Darstellung den Anschein erweckt. Auch ich gehe davon aus, dass der zentrale Punkt in Kants Kolonialismuskritik an dieser Stelle ist, dass die Vorraussetzungen des Postulats des öffentlichen Rechts im Falle kolonialer Inbesitznahme nicht erfüllt sind, gerade weil bereits der Erwerb durch die bereits ansässige Bevölkerung erfolgt ist – und dieser unabhängig von staatlicher Verfasstheit (oder deren Abwesenheit) Rechtsfolgen zeitigt.

Hinsichtlich aller drei Kommentare gäbe es sehr viel mehr zu diskutieren. Eine Replik muss notwendigerweise eine Auswahl treffen und sich auf einige wenige Punkte beschränken. Glücklicherweise ist die Philosophie ein fortdauerndes Gespräch. Manche Gedanken der Kommentator: innen werden noch lange in mir nachwirken. Dafür möchte ich mich bei ihnen bedanken. Es ist eine außergewöhnliche Ehre, dass dieses Buch so viel Aufmerksamkeit erfährt, und dass die Revista de Estudios Kantianos ihm ein eigenes Symposium widmet. Daher möchte ich den Herausgeber: innen der Revista meinen Dank aussprechen. Mein ganz besonderer Dank gilt Óscar Cubo, der dieses Projekt ursprünglich an mich herangetragen und über die unruhigen Jahre der Pandemie nicht aus den Augen verloren hat, ebenso Amelie Stuart für ihre Einleitung. Auch sie hat das Vorhaben von Beginn an unterstützt.

Literatur

Benhabib, S. (2004). The rights of others. Cambridge University Press.

Kersting, W. (1994). Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags. WBG.

Kleingeld, P. (1998). Kant’s Cosmopolitan Law. World citizenship for a global order. Kantian Review, 2, 72-90.

Klemme, H. (2015). Die Würde des Menschen – Human Dignity. Beiträge eines Symposiums zu Oliver Sensen, Kant on Human Dignity. Kant-Studien, 106(1), 67-129.

Rawls, J. (1999). The law of peoples. Harvard University Press.

Reinhardt, K. (2019). Migration und Weltbürgerrecht. Alber.

Reinhardt, K. (2021). Das Recht der Auswanderung als vernachlässigte Begründungsaufgabe. Rechtsphilosophie, 7(1), 5-18.

Ripstein, A. (2009). Force and freedom. Kant’s legal and political philosophy. Harvard University Press.

Sensen, O. (2011). Kant on human dignity. Walter de Gruyter.

Shachar, A. (2009). The birthright lottery. Harvard University Press.

von Redecker, E. (2023). Bleibefreiheit. Fischer.

Fußnote

1 Universität Passau. Kontakt: karoline.reinhardt@uni-passau.de. ORCID: https://orcid.org/0000-0002-6711-0496.
2 Zur Illustration sei hier ein Auszug aus der Richtlinie 1/176 des Ministeriums für Staatssicherheit zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge vom Januar 1976 zitiert, die eine Reihe von Zersetzungsmaßen nennt, etwa die „systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes, des Ansehens und des Prestiges auf der Grundlage miteinander verbundener wahrer, überprüfbarer und diskreditierender, sowie unwahrer, glaubhafter, nicht widerlegbarer und damit ebenfalls diskreditierender Angaben; systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Misserfolge zur Untergrabung des Selbstvertrauens einzelner Personen; […] Erzeugung von Zweifeln an der persönlichen Perspektive; Erzeugen von Misstrauen und gegenseitigen Verdächtigungen innerhalb von Gruppen“.
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