SECCIÓN MONOGRÁFICA

Kant als Metaphysiker. Überlegungen zu Kants Metaphysikkritik

Jindřich Karásek
Charles University in Prague, República Checa

Revista de Estudios Kantianos. Publicación internacional de la SEKLE

Universitat de València, España

ISSN-e: 2445-0669

Periodizität: Semestral

vol. 8, num. 2, 2024

p.ordenes.azua@gmail.com

Empfangen: 16 November 2022

Akzeptiert: 03 August 2023



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Resümee: Kants Kritik der Metaphysik zielte nicht auf ihre völlige Zerstörung, sondern auf ihre Verbesserung. Dies wird deutlich, wenn wir Kants Vorstellung von der Entwicklung der Metaphysik berücksichtigen, die in drei Schritten erfolgt. Kant hat sie als Dogmatismus, Skepsis und Kritik bezeichnet. Es ist unstrittig, dass mit Kritik Kants eigene Position gemeint ist. Wenn das so ist, dann kann man auch davon ausgehen, dass Kant seine eigene Position als dritte und letzte Stufe in der Entwicklung der Metaphysik und damit als Teil der Metaphysik verstanden hat. Ziel dieses Aufsatzes ist es, diese Konzeption zu analysieren, wie sie in der Kritik der reinen Vernunft und in dem Aufsatz „Über den Fortschritt der Metaphysik“ dargestellt wird. Zunächst sind einige Vorbemerkungen zu machen, um den Begriff der Entwicklung und seine Implikationen zu klären. In einem zweiten und dritten Schritt wird dann eine Analyse dieses Begriffs in der Kritik der reinen Vernunft und in dem Essay „Über den Fortschritt der Metaphysik“ vorgenommen. Im letzten und vierten Schritt soll die Funktion der natürlichen Theologie [theologia naturalis] erläutert werden, wie sie in dem Aufsatz „Über den Fortschritt der Metaphysik“ dargelegt wird.

Schlüsselwörter: Kategorie, Kritik, Entwicklung, Dogmatismus, Gott, Idee, Metaphysik, Orientierung, Ontologie, Fortschritt, Skepsis, Wissenschaft.

Abstract: Kant’s critique of metaphysics was not aimed at its whole destruction, but rather at its emendation. This becomes obvious, if we take into account Kant’s conception of the development of metaphysics which comes about in three steps. Kant named them as dogmatism, scepticism and criticism. It is not controversial to assume that criticism means Kant’s own position. If this is so, then one can also assume that Kant understood his own position as a third and last step in the development of metaphysics and therefore as a part of metaphysics. It is the aim of this essay to analyse this conception as it is presented in the Critique of pure reason and in the essay On the progress of metaphysics. There are first some prelimary remarks to make in order to explain the notion of development and its implications. Then in the second and third step an analysis is provided of this conception in the Critique of pure reason and in On the progress of metaphysics. In the last and fourth step the function of natural theology [theologia naturalis] is to be explained as it is found in the essay On the Progress of Metaphysics.

Keywords: Category, Criticism, Development, Dogmatism, God, Idea, Metaphysics, Orientation, Ontology, Progress, Scepticism, Science.

Einführung

Mit seiner Kritik an der Metaphysik gehört Immanuel Kant zu den wichtigsten Philosophen ihrer Tradition. Dies vor allem deswegen, weil er diejenige Gestalt der Metaphysik, die sich in der Neuzeit herausgebildet hat und in der die Methode des Mos geometricus eine grundlegende Funktion besitzt, ein für allemal nicht nur im Bereich der Metaphysik, sondern in der Philosophie insgesamt zerstörte. Nach Kant hat nur noch Friedrich Wilhelm Joseph Schelling den Versuch unternommen, eine Ethik à la Baruch de Spinoza zu entfalten. Nach dem Jahr 1806 hat jedoch auch Schelling seinen methodologischen Spinozismus aufgegeben und eine andere Methode bei der Entwicklung seines philosophischen Systems verwendet. Trotzdem ist es falsch zu behaupten, Kant hätte die Absicht gehabt, die Metaphysik als solche ein für alle mal zu zerstören, wie es Moses Mendelssohn mit seiner Bezeichnung Kants als „alles Zermalmer“ nahegelegt hat. Kant hat vielmehr versucht, die Metaphysik zu dem Rang einer Wissenschaft zu erheben, die das gleiche wissenschaftliche Niveau wie die Mathematik und die Physik auszeichnet. Dies geht m.E. deutlich aus der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft anhand des berühmten Kopernikus-Beispiels hervor. Es sei hier kurz daran erinnert. Kant räsoniert wie folgt: Wenn man die Probleme der Metaphysik lösen möchte, muss man eine zu Grunde liegende Annahme ändern. Während man bisher davon ausgegangen ist, dass das Denken sich nach den Dingen richtet, gilt es die umgekehrte Hypothese anzunehmen, dass die Dinge als die zu erkennenden Gegenstände sich nach dem Denken richten. Weil nun die Metaphysik damit steht und fällt, dass sie Erkenntnisse a priori von den Dingen zur Verfügung stellt, und Kant zufolge zur Erkenntnis Anschauungen und Begriffe erforderlich sind, so müssen nach Kant zwei Bedingungen erfüllt sein: es muss zum einen Anschauungen a priori und zum anderen Begriffe a priori geben. Nun zeigt Kant in der „Transzendentalen Ästhetik“, dass in der menschlichen Sinnlichkeit zwei Formen der Anschauung liegen, die trivialerweise als Formen allen konkreten Fällen der sinnlichen Wahrnehmung vorangehen, d.h. a priori sind, nämlich bekanntlich Raum und Zeit. Kant zeigt jedoch in der „Transzendentalen Analytik“ des weiteren auch, dass es Begriffe gibt, die er im Anschluss an Aristoteles als Kategorien bezeichnet und die ihren Ursprung allein in der menschlichen Rationalität und näher in dem reinen Verstand [intellectus] haben, und somit allen konkreten Fällen des menschlichen Denkens als seine Formen vorangehen, d.h. a priori sind. Die Metaphysik kann nach dieser Revision als Wissenschaft auftreten, wenn sie als eine solche philosophische Theorie aufgefasst wird, in der Anschauungen und Begriffe a priori diejenigen Elemente sind, mit deren Hilfe synthetische Sätze a priori formuliert werden können. Ist das der Fall, dann hat die Metaphysik denselben Status einer Wissenschaft, wie er der Mathematik und der Physik insbesondere dank Galileo Galilei und Isaac Newton schon vor der Kantischen Revision eigen war. Denn es ist das Vorkommen synthetischer Urteile a priori, das Kant zufolge eine Theorie zur Wissenschaft macht.

Kant hat diesen Zug seiner Metaphysikkritik mit einer eigentümlichen Auffassung verbunden. So hat er bereits in der Einleitung zu der Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik ausgeführt, dass die Kritik der reinen Vernunft der dritte und neueste Schritt sei, den die Metaphysik getan habe (FM, AA 20:263). Kant zählt somit sein eigenes Projekt einer Transzendentalphilosophie zur Metaphysik, und zwar als die neueste Gestalt ihrer Entwicklung. Darüber hinaus hat Kant in der Einleitung zur Preisschrift „ein System aller Verstandesbegriffe und Grundsätze […], so fern sie auf Gegenstände gehen, welche den Sinnen gegeben, und also durch Erfahrung belegt werden können“, als Ontologie bezeichnet (FM, AA 20:260). Wenn man unter diesem System die in der „Transzendentalen Analytik“ der Kritik der reinen Verrnunft vorgelegte Lehre versteht, so ist zu sagen, dass Kant diese Lehre als Ontologie angesehen hat. Kant wird, so lässt sich vermuten, in dem Zeitraum zwischen der Publikation der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft und der Veröffentlichung der Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik klar geworden sein, dass die Kategorien und die von ihnen hergeleiteten Grundsätze als grundlegende Bestimmungen der Dinge zu verstehen sind, mit der Einschränkung allerdings, dass sie diese bestimmende Funktion nur mit Bezug auf diejenigen Dinge haben, die uns in unserer Sinnlichkeit gegeben sind oder gegeben werden können. Es ist nun die Funktion der reinen Verstandesbegriffe, die grundlegenden Bestimmungen der Dinge als Gegenstände unserer Sinnlichkeit zu sein, die berechtigt, sie als Kategorien zu bezeichnen. Aus diesem Grund kann man von einer transzendentalen Ontologie Kants sprechen. In ihr werden also Begriffe herausgestellt und untersucht, die Grundbestimmungen der Dinge als Erscheinungen sind. Damit hat Kant die Ontologie als Lehre von dem Seienden als solchem in die Lehre von dem Seienden als Phänomen transformiert. Kant beschreibt diese Transformation nicht nur der Ontologie, sondern der Metaphysik als solcher als eine Entwicklung, die in drei Schritten bzw. Stadien sich vollzieht.

Es ist die Zielsetzung der folgenden Überlegungen, die mit dieser Beschreibung nahegelegte Auffassung Kants von der Metaphysik und ihren Implikationen zu untersuchen. Dabei sind zunächst einige begriffliche Klärungen erforderlich. Danach wird der Gedanke der Entwicklung der Metaphysik untersucht, wie sie in der Kritik der reinen Vernunft herausgearbeitet worden ist. In einem folgenden Schritt wird dargestellt, wie Kant diesen Gedanken in der Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik weiter entwickelt hat.[2] Zum Schluss soll auf die Funktion der natürlichen Theologie [theologia naturalis] in der Entwicklung der Metaphysik hingewiesen werden, die in der Preisschrift zum Vorschein kommt.

1.

Zunächst ist festzuhalten, dass die Entwicklung der Metaphysik die Entwicklung der reinen Vernunft selber ist, denn es ist Kant zufolge die reine Vernunft, die dafür verantwortlich ist, dass wir so etwas wie die Metaphysik haben. Die Entwicklung der reinen Vernunft kann man nun in einem noch zu präzisierenden Sinne ihre Geschichte nennen. Die reine Vernunft hat also ihre eigene Geschichte. Kant hat diesen Sachverhalt zum Ausdruck gebracht, indem er die Kritik der reinen Vernunft mit dem vierten Hauptstück der transzendentalen Methodenlehre „Die Geschichte der reinen Vernunft“ abgeschlossen hat. Die Geschichte der reinen Vernunft ist also von Anfang an ein Bestandteil von Kants Transzendentalphilosophie gewesen. Es fragt sich, auf welche Weise dieser Sachverhalt begründet werden kann.

Die Formulierung der Preisfrage – Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolff's Zeiten in Deutschland gemacht hat? –, die Kant offensichtlich ernst genommen hat, hat nun nahegelegt, dass die geschichtliche Entwicklung der reinen Vernunft und damit der Metaphysik einen Fortschrittscharakter haben soll. Unter einem Fortschritt ist ein solcher Prozess zu verstehen, von dem gilt, dass er in voneinander unterscheidbare Stadien gegliedert werden kann, die sich so zueinander verhalten, dass das vorhergehende Stadium in irgendeiner Hinsicht mangelhafter als das darauf folgende Stadium ist. Diese Hinsicht muss für alle Stadien des Prozesses als das Kriterium gelten, das es allererst erlaubt, die Mangelhaftigkeit des vorhergehenden Stadiums und die Beseitigung des Mangels in dem darauf folgenden Stadium festzustellen. Dabei muss auch beachtet werden, dass die explizite Gliederung einer fortschreitenden Entwicklung ein Vollzug des Geschichtsschreibers selber ist, der sich dabei allerdings an den in der Entwicklung vorgezeichneten und angedeuteten Spuren orientieren muss, in denen seine Gliederung ihre Wahrheitsgrundlage hat. Es wird deutlich werden, dass Kants Beschreibung der geschichtlichen Entwicklung der Metaphysik dieser rudimentären Analyse eines fortschreitenden Entwicklungsprozesses entspricht.

Bereits aus den ersten Absätzen der Einleitung zur Preisschrift geht hervor, dass Kant sich des Umstandes bewusst war, dass die Beschreibung und Analyse der fortschreitenden Entwicklung der Metaphysik eine noch ungelöste Aufgabe darstellt, und zwar im Unterschied zu der Astronomie und Chemie, die als empirische Wissenschaften ihre Geschichtsschreiber bereits gefunden haben, und im Unterschied zur mathematischen Analyse und der reinen Mechanik – offenkundig zwei Beispiele für nicht-empirische Wissenschaften –, die gerade dabei sind, ihre Geschichtsschreiber zu finden. Nun scheint es, so Kant, dass es auch im Fall der Metaphysik allein eine Frage der Zeit ist, bis ihr Geschichtsschreiber gefunden ist. Es ist deutlich, dass Kant mit der Preisschrift diese Rolle für sich beanspruchen möchte. Nun gilt im Fall der Metaphysik ähnliches, was Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft in Hinblick auf die Frage ausgeführt hat, warum es der Metaphysik im Unterschied zu der Mathematik und der Naturwissenschaft noch nicht gelungen sei, den sicheren Weg einer Wissenschaft anzutreten. Auch hier schien es zunächst einmal kein Problem zu geben: Warum sollte in der Metaphysik nicht dasselbe gelingen, was in der Mathematik und Naturwissenschaft bereits gelungen ist? (KrV, BXV-XVI) Die Antwort läuft sowohl in der Vorrede zu der Kritik der reinen Vernunft als auch in der Einleitung zu der Preisschrift darauf hinaus, dass die Metaphysik anders beschaffen ist als die Mathematik und die Naturwissenschaft. In der Vorrede wird dieser Umstand mit dem oben erwähnten Kopernikus-Beispiel erläutert. In der Einleitung zu der Preisschrift greift Kant zur Erläuterung seine beliebte Metapher auf: Die Metaphysik sei „ein uferloses Meer, in welchem der Fortschritt keine Spur hinterlässt, und dessen Horizont kein sichtbares Ziel enthält“ (FM, AA 20:259). Demnach gilt: die fortschreitende Entwicklung muss zumindest im Ansatz voneinander unterscheidbare Stadien aufweisen und somit den Charakter eines diskreten Ganzen haben. Die Metaphysik scheint jedoch analog zu dem Meer ein quantum continuum zu sein: eine jede Spur, die hinterlassen wird und es erlauben könnte, dieses Ganze in einsehbare Teile zu gliedern, wird sofort weggespült und verschwindet. Das macht die Orientierung schwierig. Die klar voneinander unterscheidbaren Stadien, die zumindest als Spuren in der Sache selbst, d.h. in der sich entwickelnden Metaphysik, feststellbar sein müssen, sollen also die Orientierung in ihrer Entwicklung verschaffen. Weil die wahre Orientierung in einer Sache nicht diejenigen Grenzen verfolgen kann, die von dem Orientierenden freiwillig gesetzt werden, so müssen in der Entwicklung der Metaphysik selber ihre Gliederungsmöglichkeiten zumindest im Ansatz vorhanden sein. So ist z.B. die Orientierung im physischen Raum nur anhand einer nicht beliebigen geometrischen Gliederung des Leibes des sich Orientierenden möglich (WDO, AA 8:131-148).

Kant begründet die dargestellte Beschaffenheit und die mit ihr verbundene Schwierigkeit der Metaphysik jedoch zunächst anders als mit dem Hinweis auf die Orientierungsmöglichkeiten, und zwar auf eine Weise, dass damit ein wichtiger systematischer Zug der Metaphysik zur Sprache kommt, die sie nicht nur von den empirischen Wissenschaften, sondern auch von der Mathematik unterscheidet. Diesen Zug der Metaphysik hat Kant bereits in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft explizit gemacht: Die Metaphysik unterscheidet sich von allen anderen „Vernunftwissenschaften“ dadurch, dass sie als in sich vollendetes Ganzes dargestellt werden kann. Nachdem sie also durch die Kritik der reinen Vernunft „in den sicheren Gang einer Wissenschaft“ gebracht worden sei, „[kann] sie das ganze Feld der für sie gehörigen Erkenntnisse völlig befassen und also ihr Werk vollenden und für die Nachwelt, als einen nie zu vermehrenden Hauptstuhl zum Gebrauche niederlassen […]“. Im Unterschied zu den anderen „Vernunftwissenschaften“ gilt von ihr: „nil actum reputans, si quid superesset agendum“ (KrV, BXXIII-XXIV).

Es ist ausdrücklich hervorzuheben, dass Kant der Auffassung war, dass seine Kritik der reinen Vernunft die Metaphysik zum Rang der Wissenschaft erhoben hat. Kant zufolge gilt ganz allgemein, wie bereits erwähnt, dass eine Theorie erst dann Wissenschaft genannt werden kann, wenn in ihr synthetische Urteile a priori vorkommen. Nun besteht das Ergebnis der Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft darin, dass die als Ideen bezeichneten reinen Vernunftbegriffe es nicht erlauben, mit ihrer Hilfe als Prädikate synthetische Urteile a priori zu formulieren, die als Prinzipien (Grundsätze) der Erkenntnis zu fassen sind. Solche Urteile zu formulieren, ist nur mit Hilfe der als Kategorien bezeichneten und sinnlich schematisierten reinen Verstandesbegriffe möglich. Das bestätigt erneut, dass an die Stelle der vorkritischen Ontologie die Analytik des reinen Verstandes getreten ist. Die Ontologie als Lehre von dem Seienden als solchen ist in die Metaphysik der Erfahrung transformiert worden. Im Bereich der theoretischen Rationalität ist die Metaphysik also nur als eine nicht-empirische Wissenschaft des Empirischen möglich. Sie ist deswegen Metaphysik zu nennen, weil sie eine nicht-empirische Wissenschaft ist, aber einen anderen Charakter hat als Mathematik oder reine Physik und des weiteren als alle anderen „Vernunftwissenschaften“. Kant scheint damit die drei Lehren der metaphysica specialis, nämlich Psychologie, Kosmologie und Theologie, unter den Tisch geworfen und von dem ganzen Gebäude der rationalistischen Metaphysik nur die von ihm in der „Transzendentalen Analytik“ transformierte Ontologie übrig gelassen zu haben. Indes ist die Situation ein wenig komplizierter als es mit diesen Überlegungen nahegelegt zu sein scheint. Aufgrund Kants Einteilung aller Gegenstände in die Gegenstände des äusseren und des inneren Sinnes, können zwei nicht-empirische Wissenschaften entfaltet werden, denen die „Transzendentale Analytik“ zugrunde liegt: zum einen eine reine Körperlehre und zum anderen eine reine Seelenlehre. Die erste hat Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft vorgelegt. Die zweite wird in der Kritik der reinen Vernunft entwickelt als die Lehre von dem denkenden Ich als transzendentaler Apperzeption. Das Kapitel von den Paralogismen der reinen Vernunft dokumentiert den Prozess der Transformation der psychologia rationalis in die Lehre von dem denkenden Ich als transzendentaler Apperzeption. Mit dem denkenden Ich hat Kant den Begriff der Seele aus dem Bereich der von ihm transformierten Metaphysik verbannt und durch den Begriff des denkenden Ich ersetzt. Es blieb nur die empirische Psychologie, die von Kant in die Anthropologie umgestaltet worden ist. Erst Schelling und nach ihm Georg Wilhelm Friedrich Hegel gaben der Metaphysik den Begriff der Seele zurück.

In der Einleitung zu der Preisschrift wird der Gedanke von der Metaphysik als ein vollendetes Ganzes wie folgt formuliert: „Denn Metaphysik ist ihrem Wesen, und ihrer Endabsicht nach ein vollendetes Ganzes: entweder nichts, oder alles; was zu ihrem Endzweck erforderlich ist, kann also nicht, wie etwa Mathematik oder empirische Naturwissenschaft, die ohne Ende immer fortschreiten, fragmentarisch abgehandelt werden.“ (FM, AA 20:259) Dieser Stelle zufolge gilt für die Metaphysik im Unterschied zu allen anderen „Vernunftwissenschaften“, dass sie als ein vollendetes Ganzes dargestellt werden kann, weil sie anders als alle anderen „Vernunftwissenschaften“ nicht ohne Ende fortschreitet und immer neue und neue Erkenntnisse hervorbringen kann, sondern weil die Anzahl der in ihr möglichen Erkenntnisse vollständig aufgezählt werden kann. Die Möglichkeit einer solchen Darstellung macht es erforderlich, dass die „Erkenntnisse“ in einem System entfaltet werden, was auch immer dies bedeuten mag. Dasselbe gilt auch für die Transzendentalphilosophie als Lehre von den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung: Die Anzahl dieser Bedingungen ist begrenzt und kann vollständig dargestellt werden. Die Anzahl der Kategorien ist Zwölf, wobei diese Anzahl weder vermehrt noch vermindert werden kann. Aus den vier Kategorienklassen lassen sich auch nur vier Grundsatztypen ableiten. Diese Vollständigkeit liegt deshalb vor, weil die Kategorien ihren Ursprung in dem reinen Verstand haben als einer in sich selbst beständigen, sich selbst genügsamen und durch keine äusserlich hinzukommenden Zusätze zu vermehrenden Einheit (KrV, B89-90).

Analog gilt für die Abgeschlossenheit der Psychologie, Kosmologie und Theologie in der „Transzendentalen Dialektik“ der Kritik der reinen Vernunft, dass sie aus der Natur und Verfassung der Vernunft hergeleitet wird.[3] Dies kommt zum Ausdruck, wenn Kant sagt, die transzendentalen Ideen oder die reinen Vernunftbegriffe seien nicht willkürlich erdichtet, sondern durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben (KrV, B384). Dass es nur drei Grundtypen dieser Ideen gibt, leitet Kant aus dem Anspruch der Metaphysik ab, Erkenntnisse liefern zu können, denn zu einer jeden Erkenntnis gehört, dass sie die Struktur der Beziehung der Vorstellungen auf die zu erkennenden Objekte aufweist. Diese Relation hat Kant in der Transzendentalen Analytik untersucht und gezeigt, dass sie anhand der Synthesis des Mannigfaltigen zustande kommt, der Kategorien als Einheitsfunktionen zugrunde liegen. Kant meint also offenbar, dass das, was für eine Erkenntnis allgemein gilt, auch für die beanspruchten Erkenntnisse im Bereich der metaphysica praktischen Lehren der specialis gelten muss. Nun gibt es nur drei Möglichkeiten einer solchen Relation: die Beziehung der Vorstellungen (i) auf das Subjekt, (ii) auf Objekte als Erscheinungen; (iii) auf Objekte als Gegenstände des Denkens überhaupt (KrV, B391). Wenn man die Frage bei Seite lässt, warum nicht auch der Begriff des Subjekts in den Begriff des Subjekts als Erscheinung und in den des Subjekts als Objekt des Denkens eingeteilt wird, so ergeben sich daraus Psychologie, Kosmologie und Theologie als die drei Disziplinen der metaphysica specialis zusammen mit ihren drei Ideentypen. Nun besteht nach Kant unter den drei Ideen der reinen Vernunft ein Zusammenhang, der in einem notwendigen Übergang von der (erstrebten) Erkenntnis der Seele zur Erkenntnis der Welt und von da aus zu der Erkenntnis des Urwesens besteht, in dem – dem Anspruch nach – alles begründet liegt. Wichtig ist hinzuzufügen, dass Kant zufolge es sich bei diesem Übergang um einen derart natürlichen Fortschritt handle, dass er dem logischen Fortgange der Vernunft von den Prämissen zum Schlusssatz ähnlich sei. (KrV, B394-395) Wenn es sich nun bei diesem Fortgang um einen Fortschritt in dem oben angegebenen Sinne handeln soll, dann muss folgendes gelten: Die Erkenntnis in der psychologia rationalis muss einen Mangel aufweisen, der in der cosmologia rationalis beseitigt wird, wobei es in der cosmologia rationalis wiederum einen Mangel geben muss, der erst in der theologia naturalis beseitigt werden kann. Dies lässt sich folgendermaßen verständlich machen: Die Seele muss sich auf eine Welt der Dinge beziehen, denn sie muss nicht nur sich selbst erkennen, sondern auch das, was sie umgibt und was sie mit anderen Seelen gemeinsam hat. Nun ist nicht nur die Seele, sondern auch das Gesamt dessen, was sie umgibt, auf einen Ursprung angewiesen, über den sie nicht verfügen kann. Dieser Ursprung ist mit Gott als einem notwendigen Wesen zu identifizieren, dessen Essenz die Existenz einschließt.[4] Somit ist die theologia naturalis ein Gipfel der Metaphysik, weil sie eine Aufklärung über den Grund allen Seins liefert, bzw. dem Anspruch nach zumindest liefern soll. Dass dieser Erkenntnisanspruch unerfüllt bleibt, ändert nichts an dem internen Zusammenhang der drei transzendentalen Ideen und der sie abhandelnden Bereiche der metaphysica specialis, und zwar schon deswegen nicht, weil es sich um einen internen Zusammenhang handelt, der unabhängig davon besteht, ob sich die Ideen auf reale Objekte oder nur auf hypostasierte intentionale Korrelate beziehen. Deswegen kann die Metaphysik in ihren beiden Teilen, nämlich sowohl in der Gestalt der transzendentalen Ontologie als auch in der Gestalt der aus der Perspektive des vermeintlichen Erkenntnisanspruchs destruierten metaphysica specialis, ihrem Wesen und ihrer Endabsicht nach für in sich abgeschlossen und vollendet gehalten werden.

2.

Der Gedanke der geschichtlichen Entwicklung der Metaphysik ist nun nicht so sehr in dem Abschlusskapitel der Kritik der reinen Vernunft „Die Geschichte der reinen Vernunft“, sondern vielmehr an einer anderen Stelle in der Methodenlehre zu finden, nämlich in dem Kapitel „Von der Unmöglichkeit einer sceptischen Befriedigung der mit sich selbst veruneinigten reinen Vernunft“ (KrV, B786-797). Kant führt hier in der Analogie zur Entwicklung des menschlichen Lebens drei Stadien ihrer Entwicklung ein, die später in die Preisschrift aufgenommen worden sind (KrV, B788-789). Kant will an dieser Stelle erläutern, warum die Vernunft, die sich ihrer Unwissenheit bewusst ist, durch den Skeptizismus nicht befriedigt werden kann. Ohne die von Kant unterschiedenen Arten der Unwissenheit auch nur zu erwähnen, soll an dieser Stelle sogleich zur Erläuterung der Metapher übergegangen werden, mit der Kant das Problem der reinen Vernunft anschaulich zu machen sucht und die in dieselbe Gruppe der Metaphern gehört wie die des uferlosen Meeres. Es ist dies die Metapher eines Horizonts, der den Inbegriff aller möglichen Gegenstände unserer Erkenntnis bildet und der von Kant als der Vernunftbegriff der unbedingten Totalität bezeichnet wird (KrV, B787). Der Grund, warum diese Metapher eingeführt wird, besteht in dem Hinweis auf das Streben der Vernunft, diesen Horizont zu überschreiten, und zwar mit dem Ziel, zu erkennen, was hinter ihm liegt (KrV, B787-788). Dass dies empirisch nicht gelingen kann, ist nahezu eine Trivialität. Denn in diesem Fall gilt, dass das Überschreiten des aktuell vorhandenen Horizonts nur zur Entdeckung eines neuen Horizonts führt, ad infinitum. Damit ist auf der Ebene der Metapher anschaulich gemacht, warum die empirische Erkenntnis prinzipiell unabgeschlossen ist. Für die Metaphysik soll nun das Gegenteil gelten. Sie soll ein abgeschlossenes Ganzes darstellen. Das bedeutet, dass ihr Streben nach dem Überschreiten des aktuell vorhandenen Horizonts, den man mit Kant als mundus sensibilis bezeichnen kann, auf Bedingungen angewiesen ist, die vollständig dargestellt werden können. Diese Bedingungen sind zugleich so verfasst, dass sie kraft ihrer begrifflichen Inhalte einerseits über den aktuellen Horizont hinausweisen, und zwar nicht zu einem weiteren empirisch erreichbaren Horizont, sondern über alle möglichen empirisch erreichbaren Horizonte hinaus. Ihre begrifflichen Inhalte sind jedoch andererseits so verfasst, dass die Umsetzung des metaphysischen Strebens nicht verwirklicht werden kann. Diese Bedingungen sind die transzendentalen Ideen. Ist diese Interpretation zutreffend, dann befindet sich die Metaphysik Kant zufolge immer schon in dieser Spannung zwischen dem Streben nach der Erkenntnis des empirisch unerreichbaren Horizonts und den Möglichkeiten seiner Verwirklichung. Kant ist offensichtlich der Auffassung, dass diese Spannung nicht zufällig ist, dass sie nicht durch irgendeinen zufälligen Irrtum in der geschichtlichen Entwicklung der Metaphysik verursacht worden ist und durch die Optimierung der Bedingungen gelöst werden kann, sondern dass sie mit der Struktur der reinen Vernunft als solcher gegeben ist. Erst die Preisgabe dieses Strebens und die bewusste Begrenzung der Erkenntniserwartungen auf den empirisch erreichbaren Horizont kann zu einer Revision führen, aufgrund derer die Metaphysik in die Transzendentalphilosophie transformiert werden kann. Die Metaphysik ist nach dieser Transformation nicht mehr die Erkenntnis des nicht-empirischen Seienden, sondern die nicht-empirische Erkenntnis des Empirischen.

Damit ist zugleich mindestens andeutungsweise angegeben, was für ein Begriff der Geschichte gemeint ist, wenn Kant von der Geschichte der reinen Vernunft spricht. Es ist bereits möglich in negativer Hinsicht zu erläutern, was er nicht bedeutet. Er bedeutet keineswegs eine reale Geschichte der Metaphysik in ihrer Entwicklung von Platon bis zu Christian Wolff und Alexander Gottlieb Baumgarten. Der Skeptizismus, als dessen Vertreter David Hume namhaft gemacht wird, ist die Zensur der Vernunft zu nennen. Ihr Unterfangen besteht darin, die vermeintlichen Facta der Vernunft zu prüfen und je nach dem Ergebnis der Prüfung auch zu tadeln. In diesem Fall wird der Zweifel an dem transzendenten, d.h. hinter bzw. über den aktuellen Horizont hinausgehenden Gebrauch der scheinbar geeigneten Mittel erweckt (KrV, B788-789). Dies stellt nun den zweiten skeptischen Schritt in „Sachen der reinen Vernunft“ dar. Der erste ist dagegen dogmatisch zu nennen (KrV, B789). Kant führt es zwar nicht explizit aus, aber man kann unschwer erraten, warum er dogmatisch genannt wird. Der Grund besteht darin, dass das, was in dem zweiten Schritt bezweifelt wird, unproblematisiert als Facta angesetzt ist. Kant vergleicht nun den ersten Schritt mit dem Kindesalter des Menschen (KrV, B789). Damit ist implizit gemeint, was für Kinder typisch ist. Sie leben in einem unproblematisierten Vertrauen: alle Lebewesen, vor allem Menschen und von den Menschen vor allem die Eltern sind gut, die Dinge sind so, wie sie gesehen, gehört, geschmeckt, getastet werden, usw. Ähnlich naiv verlässt sich die Metaphysik in dem dogmatischen Zustand auf die Erkenntnisfähigkeit des reinen Denkens: die Dinge sind wirklich so, wie sie rein gedacht werden. Das Vertrauen wird durch das physische Wachsen und vor allem durch das weitere Hineinwachsen des Kindes in die Gesellschaft und ihre Institutionen gebrochen. Das Vertrauen verschwindet oder wird zumindest relativiert. Die Urteilskraft des wachsenden Menschen wird durch die gemachten Erfahrungen vorsichtig (KrV, B789). Es ist die Skepsis, die in der Entwicklung „in den Sachen der reinen Vernunft“ diesem Zeitalter des Menschen entspricht. Sie hat ihren Grund in der Bezweiflung der zunächst unproblematisch angenommenen Erkenntnisfähigkeiten des reinen Denkens. Die Skeptiker sind also Kant zufolge so etwas wie die „Teenager“ der Metaphysik, während Wolff sozusagen auf der Ebene des metaphysischen Kindes stecken geblieben ist. Die Lösung dieser Spannung zwischen dem unproblematischen Vertrauen und seiner Bezweiflung ist Kant zufolge erst in dem dritten Schritt „in den Sachen der reinen Vernunft“ möglich. Diesen Schritt zu machen, kommt „nur der gereiften und männlichen Urteilskraft“ zu, und wird vollzogen, wenn man nicht mehr über die zunächst angenommenen und dann bezweifelten Facta streitet, sondern wenn man sich die Frage stellt, ob die Vernunft überhaupt in der Lage ist, die Frage nach den „Facta“ zu entscheiden. Um dies zu erreichen, ist eine Untersuchung nötig, die bestimmt, ob die Vernunft als die Fähigkeit des reinen Denkens „nach ihrem ganzen Vermögen“ zu reinen Erkenntnissen a priori tauglich ist (KrV, B789). Es ist somit zweierlei deutlich geworden: 1. Die „Facta“ sollen den Charakter reiner apriorischer Erkenntnisse haben und der Ausdruck „die Sachen der reinen Vernunft“ ist die Bezeichnung für die Metaphysik. 2. Der dritte Schritt entspricht dem metaphysikkritischen Programm Kants. Die Metaphysik hat sich also in drei Schritten entwickelt: 1. Dogmatismus; 2. Skeptizismus; 3. Kritizismus. Dies bestätigt erneut, dass Kant sein eigenes kritisches Programm in der Entwicklung der Metaphysik als ihren dritten und abschließenden Schritt mit gezählt hat.

Nun drängt sich allerdings die Frage auf, wie sich die von Kant unterschiedenen Schritte zueinander verhalten. Wenn man die Kantische Analogie mit dem menschlichen Leben beibehält, so kann man folgendes sagen: das, was in dem ersten Schritt behauptet wird, dass es nämlich feststehende Tatsachen der reinen Vernunft gibt, von denen auszugehen ist, wird in dem zweiten Schritt durch skeptische Argumente negiert: Es gibt keine feststehenden Tatsachen der reinen Vernunft, wie die entsprechende skeptische Behauptung lauten könnte. Wie der erwachsene Mensch dazu kommt, dass nicht alles, was die Eltern und mit ihnen die ihn umgebende Gesellschaft behauptet und verlangt hatten, sinnlos und anzugreifen ist, so kommt auch die durch die kritische Revision belehrte Vernunft dazu, dass nicht alle Behauptungen der reinen Vernunft in dem ersten dogmatisch zu nennenden Schritt sinnlos sind, wie die Vernunft in dem zweiten skeptischen Schritt sich zu überzeugen sucht. Die kritische Revision nicht nur des ersten dogmatischen Schritts, sondern auch des zweiten skeptischen, führte nun dazu, dass die Wahrheit von bestimmten höchsten Behauptungen der reinen „spekulativen“ Vernunft nicht beweisbar ist, während es doch zugleich Behauptungen gibt, z.B. dass zwischen zwei Ereignissen ein notwendiges Kausalverhältnis besteht, deren Wahrheit mit Bezug auf die empirische Erkenntnis, d.h. Erfahrung bewiesen werden kann. Diese Ausgewogenheit in der Beurteilung von den behaupteten Tatsachen der reinen Vernunft zeugt, so wird es von Kant gemeint gewesen sein, von der „gereiften und männlichen Urteilskraft“ des dritten synthetisierenden Schritts. „Die schöne Seele“ wird es zwar ein wenig traurig finden, aber ein Zeichen dieser „gereiften und männlichen Urteilskraft“ besteht darin, dass jegliches Streben nach dem Erreichen des hinter dem aktuellen Horizont Liegenden preisgegeben wird. Fasst man nun den zweiten Schritt als Überwindung des ersten dogmatischen Schritts auf, so kann man den dritten Schritt als Überwindung der Überwindung verstehen. Kraft dieser Negation der Negation kehrt die reine Vernunft in der Gestalt des reinen Verstandes zur Plausibilität der bestimmtenTatsachen der reinen Vernunft auf der neuen Ebene zurück, die deswegen neu genannt werden kann, weil bestimmte Tatsachen oder „Facta“ der reinen Vernunft mit den empirischen wahrgenommenen Tatsachen in Einklang gebracht werden können und auf diese Weise ihre Wahrheit, d.h. objektive Gültigkeit bewiesen werden kann.[5]

3.

In der Einleitung zur Preisschrift erläutert Kant zunächst die Definition der Metaphysik. In dieser Definition kommt implizit das beschriebene Streben zum Ausdruck. Sie lautet: Die Metaphysik ist „die Wissenschaft, von der Erkenntnis des Sinnlichen zu der des Übersinnlichen durch die Vernunft fortzuschreiten“ (FM, AA 20:260). Zunächst zum Ausdruck „Fortschritt“. Aus der Perspektive der Metaphysik war die Erkenntnis des Sinnlichen mangelhaft, weil sie es nicht ermöglichte, den Grund allen Seins zu erfassen. Weil dieser Grund sinnlich unzugänglich ist, musste dieser Mangel durch die Erkenntnis des Übersinnlichen beseitigt werden. Insofern stellte der Übergang von der Erkenntnis des Sinnlichen zu der des Übersinnlichen aus der Perspektive der Metaphysik einen Fortschritt dar. Die Reihe der Erkenntnisse des Übersinnlichen, die in einem geschlossenen System aneinander gekettet waren, konstituierte die entsprechende Wissenschaft. Der Ausdruck „Wissenschaft“ in der Definition bezieht sich auf das lateinische Wort ‚scientia‘, mit dem Wolff alle Disziplinen der Metaphysik definierte. Mit ihm ist also keineswegs dasjenige gemeint, was Kant unter der Wissenschaft verstanden hat.

Man kann diese Definition mithilfe der Metapher des Horizonts umformulieren: in der Metaphysik strebt die Vernunft, von der Erkenntnis des aktuell vorhandenen empirisch gegebenen Horizonts zu der Erkenntnis dessen zu gelangen, was hinter allen empirisch erreichbaren Horizonten liegt. Und dieses Streben soll in dem eigentlichen Medium oder Element der reinen Vernunft, in dem des reinen Denkens, umgesetzt werden. In dieser Umformulierung wird m.E. das erste Problem, das Kant mit dieser Definition verbunden sah, besser zum Ausdruck gebracht. Denn, so Kants Kritik, in dieser Definition ist nur angegeben, „was man mit der Metaphysik will, nicht aber, was in ihr zu tun sei“ (FM, AA 20:261). Sie gibt also nur an, was in ihr erreicht werden soll, nicht aber, auf welche Weise dieses Ziel erreicht werden kann. Man hat somit laut dieser Definition in der Metaphysik zwar das Ziel vor Augen. Es mangelt jedoch an dem Wissen, mit welcher Methode dieses Ziel erreicht werden kann. Ein Defizit bei der Definition einer Theorie muss aber nicht notwendigerweise ein Defizit dieser Theorie selber sein. Das wäre auch historisch nicht zutreffend. Denn in keiner anderen rationalen Theorie ist das Methodenbewusstsein so hoch entwickelt worden als in der Metaphysik. Die Methodenfragen waren mit der Metaphysik von Anfang an verbunden. Wenn Kant nun eine andere Definition „nach dem Begriff der Schule“ anführt, der zufolge die Metaphysik „das System aller Prinzipien der reinen theoretischen Vernunfterkenntnis durch Begriffe“ ist (FM, AA 20:261), dann muss er der Meinung sein, dass der Mangel der ersten Definition in ihr beseitigt ist. Das würde bedeuten, dass in ihr auch die Frage nach der Methode berücksichtigt wird. Und in der Tat ist diese Methode mit dem ganzen Definiens angegeben: die Methode, die zu dem angestrebten Ziel führt, das Übersinnliche zu erkennen, besteht darin, die Begriffe und Grundsätze zu entfalten, welche die reine Vernunft in einem System zusammenfasst, und dann auf die Objekte anzuwenden, die per definitionem hinter allen empirisch erreichbaren Horizonten liegen. Gott ist nun ein solches Objekt par excellence. Denn während die Seele und die Welt zumindest in einigen Aspekten der empirischen Erkenntnis zugänglich sind – natürlich in solchen Aspekten, die das metaphysische Streben nicht zu befriedigen vermögen –, ist dies bei Gott völlig ausgeschlossen. Er ist prinzipiell aller empirischen Erkenntnis unzugänglich. Die auf Gott angewandten Begriffe und Grundsätze konstituieren die Erkenntnisse von Gott. Die Disziplin der Metaphysik, in der dies geschieht, ist die natürliche Theologie als Wissenschaft [scientia] von Gott, insofern er ohne den Glauben erkannt werden kann. Aufgrund der Beschaffenheit ihres Objekts ist sie zugleich die höchste ihrer Disziplinen. Das Erste, was in ihr unternommen werden musste, war offensichtlich der Beweis des Daseins Gottes. Mit ihm und nur mit ihm war die Referentialität aller anderen ihrer Begriffe und Grundsätze gesichert. Sie haben den existierenden Gott zu ihrem Objekt. Erst unter dieser Bedingung können sie Erkenntnisse konstituieren und die theologia naturalis zu einer scientia machen. Sobald jedoch gezeigt worden ist, dass alle Beweise des Daseins Gottes ungültig sind, ist das ganze Lehrgebäude der theologia naturalis in sich zusammengebrochen. Soll die natürliche Theologie auch weiterhin bestehen, so muss sie demnach ohne Gottesbeweise auskommen. Kant war sich dessen klar bewusst. Das wird deutlich, wenn Kant zweierlei anmerkt. Erstens enthält die vorkantische Metaphysik keine „praktischen Lehren der reinen Vernunft“. Wie Kant in der Kritik der praktischen Vernunft gezeigt hat, kann in der praktischen Lehre der reinen Vernunft bestimmten Ideen der reinen Vernunft ihre unbestimmte objektive Gültigkeit zugewiesen werden, und zwar in Gestalt von Postulaten der reinen praktischen Vernunft. Das Postulat des Daseins Gottes kommt dabei ohne den Beweis seiner Existenz aus, weil es sich eben um ein Postulat handelt. Zweitens enthält sie keine mathematischen Sätze, deren objektive Gültigkeit durch die Konstruktion der entsprechenden Objekte in der reinen Anschauung nachgewiesen wird. Aus diesem Grund sind die mathematischen Sätze reine Vernunfterkenntnisse. Die vorkantische Metaphysik enthält allein „die Prinzipien der Möglichkeit einer Mathematik überhaupt“ (FM, AA 20:261). Diese sind jedoch noch keine Erkenntnisse.

An diesem Punkt führt Kant etwas Bemerkenswertes aus, das hervorzuheben ist. Kant führt aus, dass zum Fortschritt auch ein Rückgang gehören kann. Somit muss der Fortschritt nicht immer ein Fortgang sein. In diesem Kontext greift Kant die Orientierungsmetapher auf. Wenn man z.B. im Wald spazieren geht und sich verirrt, ist es ratsam, zu der Ausgangstelle zurückzukehren, falls dies möglich ist, „um einen Kompass zur Hand zu nehmen“. Durch diesen Rückgang verschafft man sich eine neue Orientierung. Der Rückgang ist in diesem Fall besser als auf dem „unrechten Wege“ fortzufahren oder gar still stehen zu bleiben (FM, AA 20:261). Den Rückgang bezeichnet Kant explizit als „einen negativen Fortgang“ (FM, AA 20:261). Zum Fortschritt gehört also auch die Negation des bisher gegangenen Weges, und zwar genau dann, wenn der Fortschritt in eine Orientierungskrise geraten ist. Die Negation hat in diesem Fall also eine positive Funktion. Wie in Abschnitt II. ausgeführt, hat Kant dem Skeptizismus die Funktion dieses negativen Fortgangs zugeschrieben. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass der Skeptiker derjenige ist, der zu der Ausgangsstelle zurückkehrt, einen Kompass zur Hand nimmt und damit eine neue Orientierung zur Verfügung stellt. Seine Funktion ist bloß negativ. Er zeigt nur, wie nicht weiter fortgeschritten werden sollte. Dies nimmt der Kritiker ernst und als Anlass dafür, durch den Rückgang zu der Ausgangstelle eine neue Orientierung „in den Sachen der reinen Vernunft“ zu verschaffen. Trifft diese Interpretation zu, dann muss Kant der Auffassung gewesen sein, dies mit seiner Kritik der reinen Vernunft geleistet zu haben. Erst sie kann die Frage entscheiden, was es heißt, sich im Denken zu orientieren.

Diese Interpretation wird bestätigt, wenn man Kants Überlegungen zu den drei Schritten berücksichtigt, wie sie von Kant in der Einleitung zu der Preisschrift ausgeführt werden. Sie sind offensichtlich aus den in Abschnitt II. zitierten und interpretierten Stellen der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft übernommen. Auch hier handelt es sich um Dogmatismus, Skeptizismus und Kritizismus. Kant bezeichnet sie als Schritte bzw. Stadien, welche die „Philosophie zum Behuf der Metaphysik durchzugehen hatte“ (FM, AA 20:264). Für das erste dogmatische Stadium ist wieder die unproblematisierte und somit kindesartige „völlige“ Zuversicht (bzw. das Vertrauen) in die Erkenntnisfähigkeiten der reinen Vernunft und ihr reines Denken kennzeichnend, die mittels Begriffe und allein anhand von Begriffen Erkenntnisse a priori gewinnen und erweitern soll. Der Grund für diese Zuversicht liegt darin, dass die Metaphysiker gesehen hatten, dass die gewünschte Erweiterung in der Mathematik gelingt. Dadurch hatten sie sich zu der Annahme verführen lassen, dass dies auch in der Metaphysik gelingen wird. Kant hat diese Begründung offensichtlich aus der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft übernommen.

Damit kommt der in der verfolgten Perspektive weitaus interessantere zweite Schritt in den Blick, nämlich der Skeptizismus. Gemäß der vorgeschlagenen Interpretation gilt, dass der Skeptiker zwar den Rückgang zu der Anfangsstelle des metaphysischen Weges als Ausweg aus der von ihm eingesehenen Krise der Metaphysik vorsieht, dies jedoch nicht deswegen, um einen Kompass in die Hände zu nehmen und damit eine neue Orientierung zu verschaffen. Dies kommt zur Sprache, indem Kant bei der Formulierung dessen, was der Skeptiker leistet, die Konditionalform verwendet:

Der zweite […] Schritt der Metaphysik war dagegen ein Rückgang, welcher weise und der Metaphysik vorteilhaft gewesen sein würde, wenn er nur bis zum Anfangspunkte des Ausganges gereicht wäre, aber nicht um dabei stehen zu bleiben, mit der Entschließung, keinen Fortgang ferner zu versuchen, sondern ihn vielmehr in einer neuen Richtung vorzunehmen (FM, AA 20:262-263).

Zwar kann der Skeptiker das Problem diagnostizieren, dass die Metaphysik sich auf einem falschen Wege befindet, er trägt aber nichts zu seiner Lösung bei. Es handelt sich um eine Diagnose ohne entsprechenden Therapievorschlag. David Hume wäre mit dieser Darstellung nicht einverstanden gewesen, denn er hätte durchaus der Meinung sein können, für die von ihm diagnostizierten Probleme der Metaphysik eine Therapie zur Verfügung gestellt zu haben. In Kants Augen war seine Therapie jedoch derart, dass sie die „Facta der reinen Vernunft“ insgesamt ablehnt, weil keine diese Facta begründenden Empfindungen [impressions] gefunden werden können. Aus diesem Grund konnte sie die Vernunft, die dadurch Kenntnis ihrer Unwissenheit erlangte, nicht befriedigen. Es handelt sich also um eine falsche Therapie. Die Vernunft konnte mit ihrer Hilfe allein nicht zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehren. Daraus folgt, dass der Vollzug des Rückgangs dem dritten Stadium der Metaphysik vorbehalten bleibt. Der Rückgang ist also erst mit der Kritik der reinen Vernunft vollzogen worden (FM, AA 20:263). Sie geht bis zu dem Anfang des metaphysischen Weges zurück, nimmt dort einen Kompass in die Hände, verschafft sich damit eine neue Orientierung und kann den Weg in eine neue Richtung einschlagen – so Kants Überzeugung. Damit kann nur folgendes gemeint sein: eine neue Orientierung ist mit der Lehre von den apriorischen Formen der Anschauung und den Kategorien als Formen des Denkens, die erst dann auf Phänomene angewendet werden können, wenn sie in einem Prozess der Schematisierung den transzendentalen Zeitbestimmungen unterworfen worden sind, zur Verfügung gestellt worden. Aus der Perspektive der Metaphysik ist hervorzuheben, dass damit eine neue Richtung in ihrer Entwicklung eröffnet wurde. Erste Schritte in diese Richtung sind mit Kants Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft und mit der Metaphysik der Sitten gesetzt worden. Für die reine spekulative Vernunft bleibt allein die Aufgabe, den Schritt zu tun, der in ihrer Selbsterkenntnis besteht.[6] Wie gleich deutlich werden wird, ist Kant davon überzeugt, dass diese Selbsterkenntnis der reinen Vernunft durch seine Kritik der reinen Vernunft zustande gebracht worden ist.

Gegen Ende der Einleitung stellt Kant die therapeutische Funktion des dritten Stadiums der Metaphysik, des Kritizismus, vor, in der wieder die „gereifte und männliche Urteilskraft“ implizit vorkommt. Diese Funktion besteht im Ausgleich der Spannung zwischen dem Dogmatismus und dem Skeptizismus, die dazu führt, dass die Metaphysik schwankend ist und beständig „vom unbegrenzten Vertrauen der Vernunft auf sich selbst zum grenzenlosen Misstrauen, und wiederum von diesem zu jenem“ übergeht oder „abspringt“, wie Kant sich ausdrückt (FM, AA 20:264). Erst durch den Kritizismus ist die Metaphysik „in einen beharrlichen Zustand“ gebracht. Es war bekanntlich das Ziel der antiken Skeptiker gewesen, aufgund ihrer Methode der Äquipolenz den Zustand der Ruhe der Seele zu erreichen. Und es ist auch bekannt, dass Kant sich dieser Methode, deren Grundsatz lautete: „panti logó logos isos antikeitai“, in dem Antinomienkapitel der Kritik der reinen Vernunft explizit bedient. In der Einleitung schreibt er sie den antiken Skeptikern zu, ohne jedoch dem zweiten skeptischen Stadium das Erreichen des Stillstandes zuzuschreiben. Mit dem Skeptizismus ist hier ein Schritt gemeint, der „beinahe“ genauso alt ist als der erste dogmatische Schritt, der selber noch älter als Platon und Aristoteles ist (FM, AA 20:262). Ist nun einmal dieser Zustand erreicht, dann wird nicht nur der Zustand der Ruhe „nicht allein des Äussern, sondern auch des Inneren“ erreicht, sondern auch die Metaphysik als solche vollendet, so dass sie weder vermehrt noch vermindert werden kann (FM, AA 20:264). Erst die Kritik der reinen Vernunft bringt die Metaphysik zum Abschluss. Kant war sich jedoch offensichtlich nicht im Klaren darüber, dass er mit der Kritik der reinen Vernunft eine neue Richtung eingeschlagen hat, in die ihm auch Philosophen folgen werden, welche die Metaphysik neu aufbauen.[7] Vielmehr scheint er von dem „notwendigen Misslingen aller künftig noch anzustellenden Versuche“ in der Metaphysik überzeugt gewesen zu sein (FM, AA 20:301). Seine These ist also aus einer geschichtsphilosophischen Perspektive betrachtet falsch. Dies gilt unabhängig davon, ob die nach Kant angestellten Versuche in der Metaphysik als erfolgreich oder als gescheitert zu beurteilen sind. Das bedeutet jedoch nicht, dass Kants These auch aus der Perspektive der reinen Vernunft selber falsch ist. Es ist möglich, dass die weitere Entwicklung der Metaphysik nach Kant immer noch in das Kant zufolge letzte Entwicklungsstadium der Metaphysik, und zwar als ein Bestandteil dieses letzten Stadiums integriert werden kann, so dass man z.B. Hegels spekulative Logik als einen Bestandteil des Kritizismus verstehen könnte. Es kann und muss hier jedoch nicht entschieden werden, ob und wie dies möglich sein könnte.

4.

In Abschnitt II. und auch in Abschnitt III. ist darauf hingewiesen worden, dass die natürliche Theologie die „höchste“ Disziplin der vorkantischen Metaphysik darstellte. Zwar werden in der Ontologie diejenigen Bestimmungen abgeleitet, die allem Seienden als solchem zukommen. Weil dies aber mit der Auffassung verbunden war, dass sie allem Seienden nur insofern zukommen, als es bloß möglich ist, so musste ein solches Seiendes angenommen werden, das in der Lage ist, das bloß Mögliche zu aktualisieren, d.h. in wirkliche Existenz zu überführen. Dabei ist die Existenz als Zusatz zu der Essenz [complementum essentiae] aufgefasst worden, in der die Möglichkeit des jeweiligen Seienden gründete. Das Seiende, das diesen Akt des Setzens der Existenz zu vollziehen vermochte, musste als ein notwendiges Seiendes [ens necessarium] aufgefasst werden, d.h. als ein solches Seiendes, dessen Essenz die Existenz einschließt. Dieses Seiende wurde mit Gott identifiziert. Die natürliche Theologie, in der zunächst die Existenz dieses höchsten Seienden bewiesen und dann eine Reihe von weiteren Bestimmungen abgeleitet wurde, ist aus diesem Grund als die wichtigste metaphysische Disziplin anzusehen. So hat z.B. Spinoza seine in dem ersten Buch seiner Ethik entwickelte Ontologie unter den Titel „De Deo“ gebracht. Erst Wolff hat die Ontologie zum Rang der ersten Philosophie erhoben und ihr Forschungsgebiet von dem der natürlichen Theologie abgekoppelt.

Kant schreibt der natürlichen Theologie in der Preisschrift wieder zu, die wichtigste metaphysische Theorie zu sein.[8] Wie bereits in Abschnitt II. erwähnt worden ist, kommt der praktischen Metaphysik, d.h. der Metaphysik der Sitten, bei Kant eine besondere Stellung zu, weil in ihr und nur in ihr den Begriffen des Übersinnlichen eine „objektive, aber praktische Realität“ zugeschrieben werden kann (FM, AA 20:300). Sie besteht darin, dass mit diesen Begriffen die Möglichkeit des höchsten Guts als des Endzwecks der reinen praktischen Vernunft „ergänzt“ wird (FM, AA 20:300). Damit will Kant auf seine in der Kritik der praktischen Vernunft entwickelte Lehre von den Postulaten der reinen praktischen Vernunft hinweisen. Diese Begriffe sind: Freiheit, Gott, Unsterblichkeit (FM, AA 20:295).

In diesem Zusammenhang ist ein erster Hinweis auf die „höchste“ Stellung der natürlichen Theologie in der Entfaltung der Metaphysik zu finden: Bei den genannten Begriffen handelt es sich um „Momente der praktisch-dogmatischen Erkenntnis des Übersinnlichen, nach synthetischer Methode aufgestellt“. Via negationis kann man sagen, dass diese Momente nicht so abgeleitet werden, dass das folgende aus dem vorhergehenden folgt, weil das in ihm implizit bereits vorhanden wäre. Die synthetische Methode verfährt vielmehr wie folgt: Es wird mit dem „unbeschränkten Inhaber des höchsten ursprünglichen Gutes“ angefangen und von diesem Punkt aus „zu dem (durch Freiheit) Abgeleiteten in der Sinnenwelt“ fortgeschritten. Die Methode kommt zu ihrem Ende mit „den Folgen dieses objektiven Endzwecks der Menschen in einer künftigen intelligibeln“ Welt (FM, AA 20:295). Auf diese Weise seien Gott, Freiheit und Unsterblichkeit systematisch verbunden. Es muss also mit demjenigen Begriff angefangen werden, dessen Referent Gott, die unbeschränkte, d.h. unbedingte Quelle des höchsten Guts, ist. Das ist auch daraus deutlich, dass der Begriff der Freiheit „das Abgeleitete in der Sinnenwelt“ betrifft und der Begriff der Unsterblichkeit nur die „Folgen dieses objektiven Zwecks“ betrifft. Das Abgeleitete in der Sinnenwelt ist der Mensch, der durch die Freiheit seines Willens, die in den Handlungen zum Vorschein kommt, deren Maximen dem kategorischen Imperativ genügen, das höchste Gut verfolgt. Die Folge dieses durch die entsprechenden Handlungen objektivierten Endzwecks ist des Menschen Glückseligkeit, die allerdings nur in Gestalt einer Hoffnung auftritt und den Begriff der Unsterblichkeit in Anspruch nimmt. Daraus wird deutlich, dass die Begriffe der Freiheit und Unsterblichkeit in dem Begriff von Gott auf eine nicht triviale Weise enthalten sind. Die Freiheit des Willens ist für Kant freilich keine analytische Implikation des Gottesbegriffs und vom Begriff der Unsterblichkeit der Seele gilt dies ebenso wenig. Es ist zwar möglich zuzugestehen, dass der Mensch als ein Seiendes von Gott geschaffen worden ist. Man hat jedoch keine hinreichenden und epistemisch relevanten Indizien dafür, dass er von Gott so geschaffen worden ist, dass sein Wille frei und seine Seele unsterblich ist.

Eine ähnliche systematische Verbindung der reinen Vernunftbegriffe von der Seele, der Welt und von Gott hat Kant auch in der Kritik der reinen Vernunft vorgesehen. Die Reihenfolge ihrer Behandlung beginnt zwar mit dem Begriff der Seele und endet mit dem Begriff Gottes. Aber das systematische Gewicht liegt auch hier auf dem Gottesbegriff. Das geht deutlich aus einer Stelle in der „Schlussanmerkung zur ganzen Antinomie der reinen Vernunft“ hervor, wo es heißt: „Denn das in sich selbst ganz und gar nicht gegründete, sondern stets bedingte, Dasein der Erscheinungen fordert uns auf: uns nach etwas von allen Erscheinungen Unterschiedenem, mithin einem intelligiblen Gegenstande umzusehen, bei welchem diese Zufälligkeit aufhöre“ (KrV, B594).

Mit diesem Hinweis wird der Übergang von der Kosmologie zur Theologie vollzogen. Auch die Seele des Menschen gehört dem Bereich dessen an, das in sich selbst ganz und gar nicht gegründet ist.[9] Es gibt daher nur einen Kandidaten für den Begriff von etwas, das in sich selbst ganz und gar gegründet ist, weil es von allen Erscheinungen toto genere verschieden ist. Dieser Begriff ist der Begriff von Gott. Diese systematische Verbindung ist eine Konkretisierung des in Abschnitt II. erwähnten Gedankens, dass zwischen den transzendentalen Ideen ein immanenter Zusammenhang besteht, der als ein Fortschritt „[v]on der Erkenntnis seiner selbst (der Seele) zur Welterkenntnis und, vermittelst dieser, zum Urwesen“ verstanden wird (KrV, B394).[10]

Ein zweiter Hinweis auf die höchste Stellung der natürlichen Theologie bei der Entwicklung der Metaphysik ist an einer Stelle zu finden, in der zugleich die in Abschnitt III. erwähnte These von dem Abschluss und der Vollendung der sich entwickelnden Metaphysik implizit vorkommt. Der Fortschritt der Metaphysik in dem dritten Stadium geschieht „im Felde der Theologie“ (FM, AA 20:301), und hat die Struktur eines Kreises, „dessen Grenzlinie in sich selbst zurückkehrt, und so ein Ganzes von Erkenntnis des Übersinnlichen beschliesst“ (FM, AA 20:300). Diesen Sachverhalt begründet Kant wie folgt: Die zwei ersten Stadien waren immer noch mit dem Empirischen behaftet. Dass dies nicht nur mit Bezug auf den Skeptizismus, sondern auch mit Bezug auf Wolffs Dogmatismus der Fall ist, lässt sich tatsächlich nachweisen und ist auch nachgewiesen worden.[11] Kant ist dies bei Wolff offensichtlich nicht entgangen. Die Metaphysik hat sich von allem Empirischen erst in dem dritten Stadium befreit und sich auf den Standpunkt der Ideen gestellt. Diese These kann auch geschichtsphilosophisch gedeutet werden. Sie würde dann bedeuten, dass die Metaphysik erst mit Kants von allem Empirischen befreiten Begriff der Idee zu ihrem Ursprung bei Plato zurückgekehrt ist. Diese Deutung wäre jedoch dem Kontigenzeneinwand ausgesetzt und darüber hinaus möglicherweise falsch. Aus diesem Grund ist es besser, sie anhand der Struktur des in Abschnitt II. eingeführten und interpretierten Strebens zu erläutern. Dem Streben nach der Überschreitung aller empirisch erreichbaren Horizonte, das von Anfang an die Metaphysik als solche definiert, sind alle Versuche, in denen das Empirische auf irgendeine Weise mit enthalten ist, unangemessen. Erst mit dem von allem Empirischen befreiten Ideenbegriff kehrt die Metaphysik zu ihrem Ursprung in dem dargestellten Streben der Vernunft zurück und beschliesst damit ihren Weg, wobei die höchste Idee unter allen dreien die von Gott ist, weil in ihr der Inbegriff aller Realität gedacht wird.

Damit kommen wir zum Inhalt des dritten Hinweises. Er befindet sich an einer Stelle des als „Transzendente Theologie“ betitelten Kapitels (FM, AA 20:301-304). Diese Stelle macht zunächst auf folgendes aufmerksam: wenn man einen ontologischen Begriff a priori von „einem Dinge überhaupt“ bilden will, muss man den Begriff „von einem allerrealsten Wesen in Gedanken zum Grunde legen“ (FM, AA 20:302). Kants Argument lautet: „Denn eine Negation, als Bestimmung eines Dinges, ist immer nur abgeleitete Vorstellung, weil man sie als Aufhebung (remotio) nicht denken kann, ohne vorher die ihr entgegengesetzte Realität, als etwas, das gesetzt wird (positio s. reale) gedacht zu haben“ (FM, AA 20:302) Das Argument ist wie folgt zu verstehen: zur Bestimmung eines Dinges überhaupt gehört immer auch die Negation all derjenigen Bestimmungen, die ihm nicht zukommen können, insofern es eben ein bestimmtes Ding sein soll. Die negative Bestimmung setzt jedoch eine positive voraus: Die Negation setzt Realität voraus, denn ohne sie hat sie nichts zu negieren. Weil dies für alle Fälle der Bildung der Begriffe von den Dingen überhaupt gilt, so muss ein solches Etwas gedacht werden, in dem ein Inbegriff aller Bestimmungen als Realitäten eingeschlossen ist. Dieses Etwas ist Gott als Inbegriff aller Realitäten, als ens realissimum oder ens perfectissimum.[12] Mit diesem Argument begründet Kant auf der Ebene der Begriffsbildung die zu Beginn von Abschnitt IV. erwähnte These von dem Vorrang der natürlichen Theologie vor der Ontologie. In diesem Kontext gilt dasselbe, was in Abschnitt II. mit Bezug auf das System der transzendentalen Ideen gesagt worden ist: die destruktive Kritik an den Beweisen des Daseins Gottes ändert nichts an der vorrangigen Stellung der natürlichen Theologie, denn sie ist ohnehin als Abschluss des metaphysischen Strebens der reinen Vernunft nach dem Übersinnlichen ausgewiesen worden, bei dem ex definitione alle Fragen nach der Referentialität der reinen Begriffe im Bereich der sinnlichen Anschauung von Anfang an ausgeschlossen sind. Aber gerade deswegen handelt es sich um eine transzendente Theologie. Sie kann ihren Vorrang nur mit Bezug auf die Ontologie als der Lehre von dem Seienden als solchen behaupten. Die höchste Stellung der Ontologie als der Lehre von dem Seienden als Phänomen bleibt daher bei Kant unangetastet.

Fußnote

1 Institute of Philosophy and Religious Studies, Faculty of Arts, Charles University in Prague. Kontakt: jindrich.karasek@ff.cuni.cz. ORCID: https://orcid.org/0000-0001-5892-6867.
2 Die Herausgeber des Sammelbandes zu dieser Schrift Kants weisen zu Recht darauf hin, dass ihr in der Forschung in den letzten Jahren fast gar keine Aufmerksamkeit gewidmet worden ist. Das hängt nach ihnen damit zusammen, dass die Forschung sich überwiegend auf Kants Erkenntnistheorie und praktische Philosophie konzentriert hat und metaphysische Fragestellungen in Kants Philosophie vernachlässigt worden sind. Vgl. A. Haamann und B. Ludwig (2017, S. 7-8).
3 Heiner Klemme (2010, S. 142-143) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Kant die Erkenntnisansprüche der Schulmetaphysik deswegen ernst genommen hat, weil sie nicht Resultat einer kontingenten Philosophiegeschichte sind, sondern weil sie aus der Verfasstheit der menschlichen Vernunft selbst entspringen.
4 Diese Überlegung ist bei Christian Wolff zu finden. Kant führt dies nicht aus. Wolffs metaphysica specialis beginnt allerdings nicht mit der Psychologie, sondern mit der Kosmologie, und dies deshalb, weil wir nach ihm die Seele nicht erkennen können, solange wir die Welt nicht kennen. Dass Kant mit der Psychologie beginnt, muss offensichtlich mit seiner Lehre von der transzendentalen Apperzeption als der höchsten Bedingung aller Erkenntnis zusammenhängen. Hierzu vgl. Karásek (2007, S. 71-98).
5 Konrad Cramer (2001, S. 206) hat gezeigt, dass Kants Metaphysikkritik eigentlich eine Revision der Wolffschen Revision der scholastischen Ontologie ist. Sie ist also eine Revision der Revision. Dazu ist jedoch zweierlei zu sagen. Erstens hat Cramer die Skepsis in seine Überlegungen nicht einbezogen. Zweitens vollenden sich ihm zufolge die Peripetien der Ontologie mit Hegels Wissenschaft der Logik, in der Hegel die Revision der Kantischen Revision durchgeführt hat. Die Hegelsche Logik stellt somit die Revision einer Revision einer Revision dar. Vgl. Cramer (2001, S. 206).
6 Zu diesem Ergebnis gelangt der Verfasser aufgrund der Analyse von Kants Verfahren bei der Deduktion der reinen Vernunftbegriffe (Karásek, 2010, S. 59-71).
7 In seinem Buch Kant als Metaphysiker hat dies Max Wundt herausgestellt. Wundt sagt hierzu folgendes: Mit dem in der Kritik der reinen Vernunft errichteten System stehen wir „an dem entscheidenden Angelpunkt des philosophischen Denkens im 18. Jahrhundert. Wenn wir ihn recht begreifen, so muss uns damit deutlich werden, weshalb Kant, als er nur Wolffs Metaphysik besser zu begründen unternahm, in Wahrheit Fichtes und Hegels Metaphysik begründete“. Vgl. Wundt (1924, S. 379). Somit hat Kant ein ähnliches Schicksal wie Columbus erlitten, der meinte, nur einen neuen Weg nach Indien entdeckt zu haben, während er in Wahrheit eine neue Welt entdeckte. Vgl. Wundt (1924, S. 376).
8 Zu dieser Stellung der Theologie in der Preisschrift vgl. Langthaler (2018, S. 48-71).
9 Der Übergang von der Psychologie zur Kosmologie wird in dem Kapitel begründet, das zu dem Kapitel „Von den Paralogismen der reinen Vernunft“ in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft als „Allgemeine Anmerkung“ hinzugefügt worden ist, die den „Übergang von der rationalen Psychologie zur Kosmologie“ betrifft (KrV, B428-432). Hierzu vgl. Karásek (2007, S. 71-98).
10 Kant scheint hier die Ausdrücke „Fortschritt“ und „Fortgang“ promiscue zu verwenden.
11 Hierzu vgl. Cramer (2001, S. 187-191).
12 Kant hat diese Theorie in seiner Lehre von dem transzendentalen Ideal in der Kritik der reinen Vernunft detailiert entfaltet.
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