OBITUARIO

Nachruf auf Dieter Henrich

Anton Friedrich Koch
Universität Heidelberg, Alemania

Revista de Estudios Kantianos. Publicación internacional de la SEKLE

Universitat de València, España

ISSN-e: 2445-0669

Periodizität: Semestral

vol. 8, num. 1, 2023

p.ordenes.azua@gmail.com



Am 17. Dezember 2022 ist Dieter Henrich kurz vor seinem 96. Geburtstag in München gestorben. Am 5. Januar 1927 wurde er in Marburg an der Lahn geboren. Dort begann er 1946 sein Studium, wechselte aber bald zu Hans-Georg Gadamer nach Frankfurt am Main und folgte Gadamer 1950 weiter nach Heidelberg. Noch im selben Jahr, im Dezember 1950, wurde er in Heidelberg mit einer Arbeit über die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers promoviert (erschienen in Tübingen 1952), und 1956 habilitierte er sich dort mit einer Arbeit über Selbstbewusstsein und Sittlichkeit (unveröffentlicht). Bis 1960 lehrte er als Privatdozent in Heidelberg, dann als ordentlicher Professor zuerst an der Freien Universität Berlin (1960–65), anschließend erneut in Heidelberg (1965–81) und zuletzt in München (1981–94). Auf seine zahlreichen Preise, Ehrungen, Mitgliedschaften sei nur summarisch hingewiesen.

Henrichs philosophisches und allgemeineres öffentliches Wirken weisen ihn als Ausnahmeerscheinung in der Gegenwartsphilosophie aus. Was die fachliche Seite angeht, fand er in der intensiven Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Hegel früh das Thema, das ihn zeitlebens nicht mehr losließ: das Selbstbewusstsein, das Kant „transzendentale Apperzeption“ nennt, also das „Ich denke“, das alle unsere Vorstellungen begleiten können muss. Viele Philosophen haben das Ich, das wir in der transzendentalen Apperzeption zu unseren Vorstellungen hinzudenken, als Resultat unserer Reflexion auf uns selber aufgefasst, und noch heute wird diese Ansicht (etwa in der sprachanalytischen Philosophie des Geistes) des Öfteren vertreten. Aber Henrich wies 1966 in seinem Buch Fichtes ursprüngliche Einsicht nach, dass Fichte dieses verbreitete Reflexionsmodell des Ich-Bewusstseins oder Selbstbewusstseins mit überzeugenden Argumenten als aporetisch kritisiert und die Gegenposition begründet hat, dass das Ich sich ursprünglich selbst setzt und dass dieses Sich-selbst-Setzen der Grund der Möglichkeit von Reflexion, keine Folge von Reflexion ist.

Henrich interessierte sich schon früh für die Frage, wie die kritische Philosophie Kants und dann auch Fichtes von den Tübinger Theologiestudenten Hegel, Hölderlin und Schelling rezipiert und modifiziert wurde. Er wollte verstehen, wie auf Kants revolutionäre Neubegründung der Philosophie in kurzer Zeit weitere, konkurrierende Neubegründungen folgen und zu alternativen philosophischen Systemen führen konnten, vor allem zu dem monumentalen Hegelschen System. Dabei hat er zu seiner eigenen Überraschung Hölderlins Rolle als origineller philosophischer Denker und Stichwortgeber für Schelling und Hegel entdeckt und detailliert aufgearbeitet. Später, schon in seinen Münchner Jahren, führte Henrich dann mit einer Reihe von Mitarbeitern intensive philosophiehistorische Forschungen zur Genese des spekulativen Idealismus unter dem Titel „Konstellationsforschung“ durch und konnte so die dichte Kommunikation vieler begabter Nachwuchswissenschaftler in Jena und anderen Orten aus ihren Briefwechseln und teils unveröffentlichten Aufzeichnungen rekonstruieren. Wie es zu Schellings und zu Hegels philosophischen Theorien kam, ließ sich damit am Ende aber nur ex negativo verstehen. Angeregt von Hölderlin ging Schelling und ging später Hegel eigene Wege gegenüber den Debatten, die im Netz der von Henrich offengelegten Konstellationen geführt worden waren. Diese eigenen Wege hat Dieter Henrich insbesondere für Hölderlin und Hegel nicht nur akribisch historisch untersucht, sondern auch in argumentanalytischer Rekonstruktion und lebendiger philosophischer Auseinandersetzung für das engere Fachpublikum und für das weitere öffentliche Publikum in zahlreichen Veröffentlichungen erschlossen. Gleichwohl blieb seine erste theoretische Loyalität immer diejenige zu Kant, gegenüber dessen besonnenem und begrifflich und argumentativ nachvollziehbarem Philosophieren das der Nachfolger auch etwas Verstiegenes und Hermetisches hatte.

Auf diesen Stilunterschied zwischen Kant und den Nachfolgern konnte Henrich zusätzliches Licht werfen durch seine Studien zu Kants juristischem Deduktionsbegriff, deren Bedeutung man kaum überschätzen kann. Kant hatte sich, wie Henrich in historischen Studien ermittelte, an einer forensischen Literaturgattung im Heiligen Römischen Reich orientiert, die Ende des 18. Jahrhunderts bereits so sehr an Bedeutung verloren hatte, dass Jüngere wie Fichte, Schelling oder Hegel den Begriff nicht mehr kannten und Kants Begründungsabsichten daher systematisch missverstanden. Für Kant war eine Deduktion ein Mittel der theoretischen Sparsamkeit und der effektiven Verringerung von Beweislasten. Eine juristische Deduktion nämlich, durch die ein Reichsstand (Fürstentum, Grafschaft, freie Reichsstadt, …) vor dem Reichskammergericht einen faktischen Besitz gegen die Ansprüche eines anderen Reichsstandes aus der Erwerbsgeschichte (Vererbung, Kauf usw.) zu legitimieren versuchte, ging nur so weit (nur so viele Generationen etwa) zurück, wie der Besitz strittig war und handelte nur von gerichtsrelevanten Sachverhalten. Dementsprechend deduzierte Kant die Kategorien (a) metaphysisch aus den Formen der Urteile in Syllogismen (da die Syllogistik zwischen Rationalismus und Empirismus nicht strittig war), und (b) transzendental aus dem ebenfalls unstrittigen Satz, dass das „Ich denke“ alle Vorstellungen begleiten können muss. Fichte und Hegel hingegen verstanden unter einer Deduktion eine Herleitung aus dem logisch-ontologischen Ursprunge des Denkens und des Seins. Das war so, als hätte jede Deduktion vor dem Reichskammergericht zumindest bis zur Kaiserkrönung Karls des Großen, wenn nicht gar bis zum kosmischen Urknall zurückgehen müssen. Hegels Kritik an Kants Deduktion der Kategorien erweist sich vor diesem Hintergrund als an der Sache vorbeigehender Ausdruck eines Missverständnisses.

Ständige Gastprofessuren in Amerika, zunächst 1968-1972 an der Columbia Universität in New York, dann 1973-1986 in Harvard, gaben Henrich Gelegenheit, die analytische Philosophie und führende ihrer Vertreter aus nächster Nähe kennenzulernen. Er bewunderte die Rigorosität und den Ideenreichtum des besten analytischen Denkens, das damals voller Zukunft schien, sah aber auch die blinden Flecke. Dies Ich, das viel besagt (Henrichs Buchtitel, 2019) fand in der damaligen analytischen Philosophie kaum Beachtung, und als es dann später doch noch zum Thema wurde, geschah es in Theorieansätzen, die zurückbleiben hinter den bahnbrechenden Einsichten und philosophischen Ausarbeitungen Kants, Fichtes und Hegels. Die Klassiker hatten ihre Einsichten in die Verfassung und Rolle des Selbstbewusstseins für das Verständnis der conditio humana insgesamt fruchtbar gemacht und in die praktische Philosophie und die philosophische Ästhetik hinein entwickelt. Die analytische Philosophie hingegen ist – heute mehr denn je – strukturell auf Arbeitsteilung und Parzellierung des Denkens angelegt. Andererseits zeichnet sie sich durch ein vorbildlich hohes Niveau an begrifflicher Präzision und argumentativer Übersicht aus. Henrich wusste, wie schwer es sein würde, die analytische Argumentationskunst mit Fragestellungen und Einsichten der klassischen deutschen Philosophie in fruchtbare Verbindung zu bringen. Doch eben dies war die Aufgabe, die ihm für die Zukunft vorschwebte und die er an die Jüngeren weiterzugeben versuchte. Aber noch immer ist die Fusion von philosophischem Tiefgang und analytischer Klarheit nicht wirklich erreicht.

1970 wurde Dieter Henrich Präsident der Internationalen Hegel-Vereinigung, die Gadamer 1962 gegründet hatte, um der zu jener Zeit noch streng marxistisch-leninistisch orientierten Internationalen Hegel-Gesellschaft eine Alternative gegenüberzustellen. Nun nutzte Henrich seine amerikanischen Kontakte, um die Hegel-Forschung, sei es auch nur institutionell, mit der analytischen Philosophie zu konfrontieren. Das war sozusagen seine philosophische Westpolitik als Präsident der Hegel-Vereinigung. Andererseits entwickelte er auf der Basis seines frühen Interesses und Wohlwollens für die russische Kultur und das russische Leben eine philosophische Ostpolitik (so der Titel von Kapitel 7 seiner Autobiographie Ins Denken ziehen, 2019). In ihrem Verlauf gelang es ihm schließlich wider Erwarten, die konkurrierende Hegel-Gesellschaft in Moskau auszustechen. Allerdings hätte der Einmarsch der Roten Armee in Afghanistan eine für 1980 geplante gemeinsame Tagung in Moskau beinahe scheitern lassen, zumal der Westen zeitgleich die Olympischen Spiele in Moskau boykottierte. Aber Henrich sorgte dafür, dass die Tagung stattfinden konnte, und trug zum Entsetzen nicht nur der anwesenden Parteifunktionäre, sondern auch seiner russischen philosophischen Freunde eine Erklärung vor, in der er sich namens der Hegel-Vereinigung vom sowjetischen Einmarsch in Afghanistan distanzierte. Es bedurfte großen Bemühens und Einfallsreichtums, um die Sache, zumal für die russischen Freunde, glimpflich ausgehen zu lassen, was zum Glück noch während der Tagung gelang. Klare, ungeschminkte Worte zum Überfall auf Afghanistan waren notwendig. Aber Henrich sah auch, dass langfristig das Einvernehmen mit Russland eine Voraussetzung für die Überwindung der Teilung Europas, Deutschlands und Berlins war. Der Schlüssel für die Überwindung des Sowjetkommunismus lag in Moskau, und Henrich traute den Menschen in Russland zu, früher oder später einen grundlegenden Wandel herbeizuführen. Er hat recht behalten. Der russische Wandel kam, und erst dann konnte das Freiheitsstreben der Menschen in den Staaten des Warschauer Paktes zum Durchbruch kommen.

Dieter Henrich ging es nie darum, philosophische Anhänger zu gewinnen. Er hatte keine eigene ausgearbeitete Lehre anzubieten, sondern wollte Denken lehren, wollte in der Exegese bedeutender Texte Problemlagen erschließen und die theoretischen Ressourcen der klassischen deutschen Philosophie lebendig halten und für heutige Debatten geschmeidig machen. Vielleicht, so überlegte er, kann man heute gar nicht mehr „eine systematische Philosophie wie in einem Lehrbuch entfalten, die es vermag, die Verfassung und den Vollzug eines bewussten Lebens verstehend und zugleich in geklärten Begriffen zu erschließen“ (seine Worte in der erwähnten Autobiographie, S. 212). Er hat ein solches Lehrbuch jedenfalls nicht in Angriff genommen; aber auch sonst ist niemand zu erkennen, der oder die es in unserer Zeit getan hätte oder zu tun gedächte. Henrich war Lehrer und Anreger, sein Werk greift in viele Richtungen aus, und dies stets unter sorgfältiger Beachtung des Schatzes der großen philosophischen Überlieferung. Uns bleibt das dankbare Andenken an ihn und an sein weitreichendes Werk, das nun eingeht in eben diesen Schatz der philosophischen Überlieferung, die in ihrer schwer auszulotenden Tiefe voller Ressourcen für die Zukunft ist.

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